„Wir können sicher sein, dass Aggression und Gewalt in den Familien zunehmen“

Der Coronavirus-Lockdown koppelt gewaltbetroffene Frauen und Kinder von Hilfsangeboten ab – ein Gespräch mit Kinderarzt Prof. Dr. Ertan Mayatepek und Rechtsmedizinerin Prof. Dr. Stefanie Ritz-Timme

Welche Folgen könnte der Lockdown auf die Situation in instabilen Familien haben? Eskaliert Gewalt besonders dort, wo der Alltag schon vor der Coronavirus-Pandemie von Aggressionen bestimmt war? Und wo finden Betroffene Hilfe? Im Interview äußern Frau Prof. Dr. Stefanie Ritz-Timme, Direktorin des Instituts für Rechtsmedizin, sowie Prof. Dr. Ertan Mayatepek, Direktor der Klinik für Allgemeine Pädiatrie, Neonatologie und Kinderkardiologie am Universitätsklinikum Düsseldorf (UKD) ihre Befürchtungen und schildern ihr Vorgehen in Verdachtsfällen.

Das Universitätsklinikum Düsseldorf (UKD) ist seit vielen Jahren eine wichtige Anlaufstelle für kindliche und erwachsenen Opfer von Gewalt. Sowohl die Klinik für Allgemeine Pädiatrie, Neonatologie und Kinderkardiologie als auch das Institut für Rechtsmedizin setzen sich in enger Kooperation mit verschiedenen anderen Abteilungen und Berufsgruppen des Hauses engagiert für eine umfassende Betreuung betroffener Kinder und Frauen ein.

Bei der Rechtsmedizinischen Ambulanz für Gewaltopfer können Untersuchungstermine wahrgenommen werden, um gerichtsfeste Beweise und Spuren sichern zu lassen und zu psychosozialen Unterstützungsangeboten beraten zu werden. Die Klinik für Allgemeine Pädiatrie engagiert sich in der Kinderschutzgruppe des UKD, in der berufsgruppen- und fachübergreifend jeder Verdacht einer Kindeswohlgefährdung interdisziplinär beurteilt wird.

Bundesfamilienministerin Franziska Giffey hat kürzlich eine steigende Anzahl an Hilferufen aufgrund von häuslicher Gewalt bestätigt. Sehen Sie auch mehr Verdachtsfälle in der Kindernotaufnahme und der rechtsmedizinischen Ambulanz?

Prof. Mayatepek: Bislang sehen wir in unserer Kindernotaufnahme keine Zunahme von vermuteten Kindeswohlgefährdungen, was aber keinesfalls ausschließt, dass es keine Zunahme gibt. Von anderen Kinderkliniken wissen wir, dass es dort vereinzelt zum Teil zu einer Zunahme von häuslichen Unfällen und auch schweren Stürzen unter anderem aus dem Fenster gekommen ist. Ob das eine zufällige Häufung in einer Klinik ist beziehungsweise tatsächlich kausal mit dem Lockdown zusammenhängt, lässt sich natürlich nicht sicher beweisen. Aber es ist beunruhigend.

Wir wissen, dass wir im Bereich der Kindeswohlgefährdung grundsätzlich mit einer sehr hohen Dunkelziffer rechnen müssen und es ist eher davon auszugehen, dass diese Dunkelziffer im Rahmen der Corona-bedingten Einschränkungen noch weiter steigt.

Frau Prof. Ritz-Timme: In unserer rechtsmedizinischen Ambulanz ist die Zahl geschädigter Frauen und Kinder seit dem Beginn des Kontaktverbots um etwa zwei Drittel gesunken. Diese Feststellung ist sehr beunruhigend, wenn man weiß, dass „in normalen Zeiten“ etwa 25 Prozent aller Frauen von Gewalt in der Partnerschaft betroffen sind und Kinder hier oft direkt oder indirekt involviert sind. Unter den Bedingungen der Belastung durch die aktuellen „Corona-Pandemie-Bestimmungen“ ist das Gewaltrisiko in den Familien sicher gestiegen. Und gleichzeitig führen eben diese Bestimmungen dazu, dass gewaltbetroffene Frauen das sehr niederschwellige Angebot unserer rechtsmedizinischen Ambulanz (man kann einfach kommen und wird kostenfrei versorgt) offenbar nicht annehmen können, zum Beispiel weil sie unter „Kontrolle“ des Aggressors sind. Bei den Kindern fehlen zudem die Außenkontakte in KiTas und Schulen, die oft zu einem Einschreiten bei Misshandlungsverdacht führen.

Zusammengefasst: Wir sehen gerade deutlich weniger gewaltbetroffene Kinder und auch Frauen – und genau dies macht uns große Sorgen. Der „Lockdown“ koppelt gewaltbetroffene Menschen eben auch von Anlaufstellen für Hilfe und Versorgung ab.

Wie gehen Sie vor, wenn zum Beispiel von einem Treppensturz die Rede ist, Sie aber vermuten, dass Verletzungen in Folge eines Gewaltausbruchs entstanden sind?

Prof. Mayatepek: Zunächst einmal ist es wichtig, die Differentialdiagnose „Kindeswohlgefährdung“ bei nicht plausiblen Unfallgeschehen in Betracht zu ziehen. Sollte dies der Fall sein, versuchen wir den Sachverhalt in der Regel im Rahmen eines stationären Aufenthaltes weiter zu klären.

Im letzten Jahr wurde in Deutschland mit Förderung durch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) eine S3-Leitlinie zum Kinderschutz verabschiedet. Daran orientiert sich auch unsere Arbeit. An der Erstellung dieser 358 Seiten starken Leitlinie waren übrigens 82 Fachgesellschaften, Verbände, Institutionen und Organisationen beteiligt.

Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass wir bei der Bearbeitung von Kinderschutzfällen objektiv und wertfrei versuchen herauszufinden, was geschehen ist. Wir wollen, dass es nicht erneut zu einer Gefährdung kommt und dass die Familien die bestmögliche Unterstützung erhalten.

Solche Fälle können sehr eindeutig sein, aber auch sehr herausfordernd. Insbesondere dann, wenn die Differenzierung schwierig ist, gehen wir interdisziplinär vor. Bei uns am UKD gibt es eine Kinderschutzgruppe, in der jeder Verdacht auf Kindeswohlgefährdung in einem Team aus KinderärztInnen, RechtsmedizinerInnen, SozialarbeiterInnen, PsychologInnen bewertet wird. Gerade für Fragen wie „Treppensturz versus Gewalteinwirkung“ ist es von großem Vorteil, als Universitätsklinikum auf die Kompetenz von Rechtsmedizinerinnen und Rechtsmedizinern zurückgreifen zu können, die mit ihrer forensisch-traumatologischen Expertise differentialdiagnostische Überlegungen unterstützen, Verletzungen „gerichtsfest“ dokumentieren und gegebenenfalls auch Gutachten für Jugendämter, Polizei, Staatsanwaltschaft oder Gerichte erstellen.

Als wichtigste Aufgaben unserer Kinderschutzgruppe im UKD sehen wir grundsätzlich die Erkennung von Gewalt beziehungsweise Misshandlung am Kind oder Jugendlichen, die Planung eines überlegten und koordinierten Vorgehens bezüglich diagnostischer Sicherung, die Vorbereitung der  Elterngespräche und des Kinderschutzes nach Entlassung sowie die familienzentrierte interdisziplinäre Beratung.

Sind es vor allem Schulen und Kindergärten, die im Normalfall die soziale Kontrolle aufrechterhalten? Oder wo fallen Fälle von Kindesmisshandlung in der Regel auf?

Prof. Mayatepek: Voraussetzung für das Aufdecken einer Kindesmisshandlung sind vor allem Außenkontakte, zum Beispiel in den KiTas, den Schulen, bei Angeboten der Jug