Menschen hören das, was sie zu hören erwarten

Dresdner Neurowissenschaftler:innen zeigen, dass die menschliche Hörbahn Geräusche entsprechend vorheriger Erwartungen widergibt. Die Ergebnisse sind jetzt in der renommierten Fachzeitschrift eLife veröffentlicht worden.

Der Mensch ist auf seine Sinne angewiesen, um die Welt, sich selbst und andere wahrzunehmen. Obwohl die Sinne das einzige Fenster zur Außenwelt sind, hinterfragen Menschen nur selten, wie wahrheitsgetreu sie die Außenwelt tatsächlich wahrnehmen. In den letzten 20 Jahren hat die neurowissenschaftliche Forschung gezeigt, dass die Großhirnrinde ständig Vorhersagen darüber erstellt, was als nächstes passieren wird. Neuronen, die für die sensorische Verarbeitung zuständig sind, erfassen nur den Unterschied zwischen den Vorhersagen und der Realität.

Ein Team von Neurowissenschaftler:innen der TU Dresden unter der Leitung von Prof. Dr. Katharina von Kriegstein stellt in einer aktuellen Publikation neue Erkenntnisse darüber vor, dass nicht nur die Großhirnrinde, sondern die Hörbahn Geräusche entsprechend vorheriger Erwartungen widergibt. Die Hörbahn verbindet das Ohr mit der Großhirnrinde.

Für die Studie nutzte das Team die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT), um die Gehirnreaktionen von 19 Teilnehmenden zu messen, während diese Tonfolgen hörten. Die Teilnehmenden wurden angewiesen, herauszufinden, welcher der Klänge in der Reihenfolge von den anderen abweicht. Die Erwartungen der Probanden wurden so verändert, dass sie den abweichenden Ton an bestimmten Stellen der Sequenz erwarten würden. Die Neurowissenschaftler:innen untersuchten die Reaktionen, die die abweichenden Geräusche in zwei wichtigen Kernen der Hörbahn, die für die auditorische Verarbeitung verantwortlich sind, auslösten: dem colliculus inferior (‚unterer Hügel‘) und dem medialen corpus geniculatum mediale (‚mittig-liegender Kniehöcker‘). Obwohl die Teilnehmenden die abweichenden Töne schneller erkannten, wenn sie an Positionen platziert wurden, an denen sie diese erwarteten, verarbeiteten die Kerne der Hörbahn die Töne nur, wenn sie an unerwarteten Positionen platziert wurden.

Diese Ergebnisse lassen sich am besten im Rahmen einer allgemeinen Theorie der sensorischen Verarbeitung interpretieren, die die Wahrnehmung als einen Prozess der Hypothesenprüfung beschreibt. Man nennt diese Theorie ‚prädiktive Kodierung‘. Die prädiktive Kodierung geht davon aus, dass das Gehirn ständig Vorhersagen darüber generiert, wie die physische Welt im nächsten Moment aussehen, klingen, sich anfühlen und riechen wird, und dass die Neuronen, die für die Verarbeitung der Sinne zuständig sind, Ressourcen sparen, indem sie nur die Unterschiede zwischen diesen Vorhersagen und der tatsächlichen physischen Welt darstellen.

Dr. Alejandro Tabas, Erstautor der Veröffentlichung, erklärt die Ergebnisse folgendermaßen: „Unsere Überzeugungen haben einen entscheidenden Einfluss darauf, wie wir die Realität wahrnehmen. Jahrzehntelange Forschung in den Neurowissenschaften hatte bereits gezeigt, dass die Großhirnrinde, der Teil des Gehirns, der bei Menschen und Affen am weitesten entwickelt ist, Überzeugungen mit sensorischen Informationen abgleicht. Wir haben nun gezeigt, dass dieser Prozess auch in den einfachsten und evolutionär ältesten Teilen des Gehirns vorherrscht. Alles, was wir wahrnehmen, könnte zutiefst durch unsere subjektiven Überzeugungen über die Welt geprägt sein.“

Diese Ergebnisse ermöglichen der neurowissenschaftlichen Forschung, einen neuen Blick auf die Hörbahn und auch auf andere sensorische Bahnen, wie der Sehbahn. Bisher wurde der Rolle, die subjektive Überzeugungen auf Repräsentationen in den sensorischen Bahnen haben könnten, wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Vielleicht ist dies der festen Annahme geschuldet, dass Subjektivität ein Merkmal des Menschen ist und die Großhirnrinde der Hauptunterscheidungspunkt zwischen den Gehirnen von Menschen und anderen Säugetieren ist.

Angesichts der Bedeutung, die Vorhersagen für das tägliche Leben haben, könnten Beeinträchtigungen der Art und Weise, wie Erwartungen an die sensorischen Bahnen übermittelt werden, tiefgreifende Auswirkungen auf die Kognition haben. Lese-Rechtschreib-Schwäche, die am weitesten verbreitete Lernstörung, wurde bereits mit veränderter Verarbeitung in der Hörbahn und mit Schwierigkeiten in der auditorischen Wahrnehmung in Verbindung gebracht. Die neuen Ergebnisse könnten eine einheitliche Erklärung dafür liefern, warum Menschen mit Lese-Rechtschreibschwäche Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung von Sprache haben. Weiterhin liefern sie klinischen Neurowissenschaftler:innen neue Hypothesen über den Ursprung auch anderer neuronaler Störungen, die mit der sensorischen Verarbeitung in Verbindung stehen.

Originalveröffentlichung:

Alejandro Tabas, Glad Mihai, Stefan Kiebel, Robert Trampel, Katharina von Kriegstein: Abstract rules drive adaptation in the subcortical sensory pathway. eLife 2020;9:e64501
DOI: 10.7554/eLife.64501