Auch in «Gen-Wüsten» können Auslöser von Erbkrankheiten stecken

Weite Teile des menschlichen Erbguts scheinen keine Gene zu enthalten. Nun hat ein Forschungsteam mit Beteiligung der Universität Basel in einer solchen «Gen-Wüste» jedoch die Ursache für einen schweren Erbdefekt entdeckt. Die Studie im Fachjournal «Nature» zeigt, dass eine einzige Erbgutveränderung in der lange für nutzlos gehaltenen «Junk-DNA» gravierende Folgen haben kann.

Ein interdisziplinäres Forschungsteam aus Lausanne, Berlin und Basel hat einen neuen Mechanismus für Erbkrankheiten aufgedeckt. Die in der Fachzeitschrift «Nature» veröffentlichten Ergebnisse haben weitreichende Bedeutung für das gesamte Gebiet der medizinischen Genetik. An der Studie waren Forschende des Instituts für Molekulare und Klinische Ophthalmologie (IOB) der Universität Basel, der Universität und des Universitätsspitals Lausanne (CHUV) sowie des Max-Planck-Instituts und der Universität Berlin beteiligt.

«Als wir die Bedeutung unserer Erkenntnisse erkannten, waren wir wirklich verblüfft», sagt Prof. Dr. Andrea Superti-Furga von der Universität Lausanne und dem CHUV. Selbst die ausgefeiltesten diagnostischen Tests wie die Sequenzierung des gesamten Erbguts liefern nur in der Hälfte der Fälle, in denen eine genetische Ursache für eine Erkrankung vermutet wird, eine genaue Diagnose des Erbdefekts. Die neuen Ergebnisse deuten darauf hin, dass ein Teil der nicht diagnostizierten Fälle auf Veränderungen in «leeren» Regionen des Genoms zurückzuführen sein könnte.

«Obwohl wir wussten, dass einige dieser Regionen – von denen man ursprünglich annahm, dass sie unwichtige und als «Abfall» oder «Junk»-DNA bezeichnete Bestandteile enthalten – eine Funktion haben könnten, hätten wir uns nie vorstellen können, dass sie für wichtige genetische Krankheiten verantwortlich sein könnten», so Superti-Furga.

Rätselhafter Erbdefekt

Die Studie fokussierte auf schwere Fehlbildungen von Gliedmassen bei vier nicht miteinander verwandten Neugeborenen, hinter denen ein Defekt im Erbgut vermutet wurde. Überraschenderweise wurde bei keinem der Gene, die bereits im menschlichen Genom identifiziert wurden, eine Variante gefunden, die die Fehlbildungen hätte erklären können.

Bei der Suche nach der genetischen Ursache profitierte das Team von der technischen Expertise, die Prof. Dr. Carlo Rivolta und seine Mitarbeitenden vom IOB der Universität Basel über genetische Erkrankungen des Auges gesammelt haben. «Wir haben das genomische Ereignis, das für diese Fehlbildungen verantwortlich ist, nach denselben bioinformatischen und molekularen Protokollen identifiziert, die wir auch für eine seltene und rezessive Form der Netzhautdegeneration verwendet hätten», erklärt Rivolta. Damit konnten sie erfolgreich die Ursache für die Fehlbildungen identifizieren.

Weiterführende Informationen

Demnach liegt der Grund dafür im Verlust eines kleinen Abschnitts im Erbgut, der inmitten einer sogenannten «Gen-Wüste» liegt, weit entfernt also vom nächsten bekannten Gen. Eine computergestützte Analyse dieses scheinbar informationslosen Erbgutabschnitts deutete darauf hin, dass das fehlende DNA-Segment eine «lange nicht-kodierende RNA» (lncRNA) enthielt. Dabei handelt es sich um einen Abschnitt des Genoms, der zwar abgelesen wird, aber keine Information zur Herstellung eines Proteins enthält. Stattdessen dient die Abschrift (RNA) selbst als Element, das an der Regulation von Zellprozessen beteiligt ist.

Weitere Experimente ergaben, dass diese bisher unbekannte lncRNA tatsächlich notwendig war, um das nächstgelegene Gen namens EN1 zu aktivieren. Obwohl das Gen EN1 selbst intakt war, war die fehlende Aktivierung dieses Gens für die Fehlbildungen verantwortlich.

Wichtige Information auch abseits der Gene

Heute sind etwa 8000 verschiedene genetische Störungen und Krankheiten bekannt, und die Entdeckung einer neuen ist zwar wichtig für die betroffenen Individuen und ihre Familien, aber keine Ausnahme mehr. Die aktuelle Studie zeigt jedoch, dass eine solche, durch eine einzelne Erbgutveränderung ausgelöste Krankheit nicht nur durch Defekte in einem der rund 20’000 bekannten Gene ausgelöst werden kann, die zu einem Proteinprodukt führen. Die Ursache kann auch in Veränderungen in Elementen liegen, die weit von einem Gen entfernt und dennoch wichtig für dessen Aktivierung und Regulation sind.

Die Mehrzahl solcher Elemente ist noch unbekannt, ebenso wie die in dieser Arbeit identifizierte lncRNA, die sich in einem als «leer» angesehenen Abschnitt des Erbguts befand. Während also die bekannten proteinkodierenden Gene, die nur zwei Prozent des menschlichen Genoms ausmachen, die grundlegenden Funktionselemente für das Leben einer Zelle und eines Organismus sind, können auch Veränderungen in den restlichen 98 Prozent des Genoms Konsequenzen für die menschliche Gesundheit haben.

Originalpublikation

Lila Allou et al.
Noncoding deletions identify Maenli IncRNA as a limb-specific En1regulator
Nature (2021), doi: 10.1038/s41586-021-03208-9