„Ein Sprung sagt mehr, als viele Kreuzchen auf einem Score-Bogen“

Als bundesweit erste Einrichtung setzt MS-Zentrum am Uniklinikum Kraftmessplatte zur Verlaufskontrolle ein. Menschen mit neurodegenerativen Erkrankungen profitieren von den Erfahrungen aus dem Leistungssport. Für Studien können auch gesunde Personen das Zentrum unterstützen.

Das Multiple Sklerose (MS) Zentrum der Klinik für Neurologie des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus Dresden baut sein diagnostisches Spektrum und die damit verknüpfte Forschung aus. Dazu wurde die Geräteausstattung des integrierten Mobilitätszentrums um eine Kraftmessplatte erweitert. Das Gerät zur Testung von Motorik und Kraft beim Springen aus dem Stand, kommt aus der Sportmedizin. Dort wird es zur Leistungsmessung von Sportlern eingesetzt. Mit dem Angebot gezielter Diagnostik des Bewegungsvermögens von MS-Kranken, das weitere innovative Verfahren einschließt, nimmt das Dresdner Uniklinikum eine Voreiterrolle ein. In diesem Rahmen wurde auch ein Pilotprojekt etabliert, in dem akademisierte Physiotherapeutinnen und -therapeuten über ihr bisheriges Aufgabenspektrum hinaus neurologische Routineuntersuchungen übernehmen.

„Unser Mobilitätszentrum verfolgt von Anfang an einen interdisziplinären Ansatz. Damit bündeln wir die Expertise von ärztlichem Personal, Medizinisch-Technischen Angestellten, akademisch ausgebildeten Physiotherapeutinnen und -therapeuten sowie auf Medizintechnik spezialisierten Ingenieurinnen und Ingenieuren“, sagt Prof. Tjalf Ziemssen. Der Gründer und Leiter des MS-Zentrums knüpft an die Weiterentwicklung der Diagnostik konkrete Ziele. Beispielsweise tragen innovative Technologien dazu bei, die Verlaufskontrollen präziser und zugleich effizienter zu gestalten. Auf diese Weise lassen sich durch die MS bedingte Veränderungen der Motorik früher erkennen. Dieses Vorgehen bildet die Basis dafür, adäquate Therapien zeitiger als bisher starten oder bereits begonnene optimieren zu können. Hinzu kommen eine kontinuierlich aktualisierte Sturzprophylaxe und das Ziehen von Rückschlüssen beziehungsweise prognostischen Aussagen zum Krankheitsverlauf. Auf der Basis der diagnostischen Daten lassen sich zudem Hilfsmittel früher und gezielter verordnen.

Mit der in diesen Wochen neu am Mobilitätszentrum etablierten Kraftmessplatte wird das Team insbesondere bei MS-Kranken in frühen Stadien deren motorische Fähigkeiten testen. Die hierbei gewonnenen Daten werten spezielle Sprunganalysesoftwares mit dem Ziel aus, subtile Gangbeeinträchtigungen im Vergleich zu gesunden Probanden besser zu erkennen. „Das Springen – egal ob auf einem Bein oder auf beiden – verlangt jedem Menschen ganz unterschiedliche Fähigkeiten ab“, beschreibt Prof. Ziemssen den Nutzen der neuen Kraftmessplatte. „Denn beim Hüpfen sind zugleich Gleichgewichtssinn, Koordination, Kraft und Konzentration gefordert. Für uns Behandelnde ist es dabei ganz wichtig zu sehen, welche Unterschiede bei den beiden Körperhälften bestehen.“ Denn bei MS treten die krankheitsbedingten Schäden im Gehirn in der Regel erst in einer der beiden Hälften des Organs auf. Weil die Kraftmessplatte sehr unterschiedliche Daten liefern kann, hilft sie den MS-Expertinnen und Experten beim Beantworten vieler Fragen. Das Know-how zu dieser Form der Diagnostik stammt aus dem Leistungssport. Hier wird seit langem mit diesen Geräten gearbeitet – auch im Bereich Sportmedizin und Rehabilitation des UniversitätsCentrums für Orthopädie, Unfall- und Plastische Chirurgie am Dresdner Uniklinikum, das als lizensiertes Untersuchungszentrum des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) zahlreiche Leistungssportler betreut.

Die digital erhobenen und ausgewerteten Daten zu Motorik und Leistung bieten mehrere Vorteile. Während die von ärztlichem oder physiotherapeutischen Personal persönlich erhobenen Befunde in der Regel in einem Score-Bogen mit Werten einer zumeist einstelligen Skala eingetragen werden und dabei zwangsläufig auch subjektive Eindrücke einfließen, ist die elektronische Messung feiner, präziser und von geringeren äußerlichen Faktoren beeinflusst. „Ein Sprung sagt mehr als viele Kreuzchen auf einem Score-Bogen“, so Prof. Ziemssen. Er betont zudem den in dieser Zeit wichtigen Aspekt, dass sich bei den neuen digitalen Testverfahren die geltenden Abstands- und Hygieneregeln besser einhalten lassen, um die Betroffenen ebenso wie das Personal optimal zu schützen.
Methoden des Mobilitätszentrums am Multiple Sklerose Zentrum

Die multidimensionale Ganganalyse dient der quantifizierbaren Aufnahme des Gangbildes der MS-Patienten. Dies schließt sowohl eine selbstgewählte Gehgeschwindigkeit als auch das höchstmögliche Tempo ein.

Im Dual Task Test wird das Gangbild anhand differenzierter Aufgaben untersucht. Für das Messen der Geh-Ausdauer hat das Mobilitätszentrum auf dem Flur des MS-Zentrums den „Caruswalk“ eingerichtet: Auf genau 25 Metern – Start und Ziel sind jeweils mit dem Konterfei von Carl Gustav Carus, dem Namenspatron des Uniklinikums, markiert – lassen sich diese motorischen Fähigkeiten überprüfen.

Mit dem Postural Sway Test werden Balance- und Gleichgewichtsfähigkeit bei geöffneten sowie geschlossenen Augen analysiert. Dazu nutzt das Mobilitätszentrum das GAITRite-System. Das Akronym steht für eine rund 8,80 Meter lange Gehmatte, in der rund 30.000 Sensoren verbaut sind. Sie wird in Kombination mit sechs tragbaren Beschleunigungssensoren (APDM Wearables) genutzt, die an den Extremitäten und am Rumpf getragen werden. Dank dieser Form der Analyse räumlicher sowie zeitlicher Gangparameter lassen sich Schrittsymmetrie, Gangvariabilität und dynamische Balance detailliert erfassen. Die daraus gewonnenen Daten dienen zudem der Prognose eines möglichen Sturzrisikos von Patienten mit Multipler Sklerose.

In einer Kooperation mit der Professur Sportgerätetechnik der TU Chemnitz nutzt das Mobilitätszentrum auch sogenannte Gehsocken, mit denen sich die Druckverteilung auf den Fußsohlen prüfen lässt. Diese innovative Methode, die neben den standardmäßig genutzten Untersuchungsverfahren eingesetzt wird, kann den Gang, die Balancefähigkeit und die Bewegungsmuster im Alltag noch gezielter abbilden.

Der Einsatz von Aktivitätstrackern wie dem GeneActiv als kontinuierliche Alltagsmessung dient dem Erstellen von Aktivitätsprofilen. Vorteil dieses innovativen Messinstruments ist es, dass die Diagnostik an Objektivität gewinnt, weil die kontinuierlich erfassten Daten den Einfluss einer schwankenden Tagesform wie auch die subjektive Einschätzung des Gesundheitszustands minimieren.

Eine weitere diagnostische Methode bietet das Mobilitätszentrum gemeinsam mit dem Institut für Biomedizinische Technik der TU Dresden an: Das aus drei Komponenten bestehende DIERS 4Dmotion-System besteht zum einen aus einem strahlungsfreien, lichtoptischen Verfahren zur Oberflächenvermessung. Dabei wird ein Linienraster auf den Rücken projiziert, um davon ein dreidimensionales Modell zu berechnen und zu analysieren. In Kombination mit einer Fußdruckreaktionskraftmessung (Pedogait) sowie der Analyse der Beinachsen (DIERS leg axis) und dem integrierten Laufband steht eine umfassende markerbasierte Analysetechnik der Fortbewegung der MS-Betroffenen zur Verfügung.

Mobilitätszentrum sucht für laufende Studien gesunde Probanden

Die Mobilität von MS-Betroffenen wird am MS-Zentrum in verschiedenen Studien untersucht. Für diese Vorhaben benötigen die Forschenden zu vergleichenden Zwecken auch sogenannte Normdaten. Deshalb sucht das Team zusätzlich gesunde Probanden, die ebenfalls allen Untersuchungsmethoden unterzogen werden. Interessenten, die ihr Gangbild und ihre Sprungkraft analysieren lassen möchten, können sich an das Mobilitätszentrum wenden.

Kontakt für Interessierte sowie MS-Patientinnen und Patienten

Zentrum für klinische Neurowissenschaften am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden, Mobilitätszentrum am Multiple Sklerose Zentrum,
Besucheranschrift: Blasewitzer Str. 43, 01307 Dresden
E-Mail: 
Telefon: 0351-458 59 33
https://msz.uniklinikum-dresden.de/msz/mobilitaetszentrum

Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft erneuert Zertifikat für MS-Zentrum

Das MS-Zentrum in Dresden am Zentrum für klinischen Neurowissenschaften der Klinik für Neurologie des Dresdner Uniklinikums hat seine Versorgungsfunktion mit der Erneuerung des Zertifikats der DMSG (Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft), Bundesverband e. V. erneut unter Beweis stellen können. Damit bleibt das MS-Zentrum Dresden Schwerpunktzentrum nach den Kriterien der Patientenorganisation. Das Zertifikat wird mit seiner zweijährigen Gültigkeit für die Erfüllung ihrer festgelegten Kriterien vergeben. Dazu gehören unter anderem eine auf Leitlinien gestützte Behandlung durch auf Multiple Sklerose spezialisierte Neurologen und Fachkräfte, sowie eine barrierefreie Ausstattung der Einrichtung. Ebenso wird eine Mindestanzahl von jährlich behandelnden und dokumentierten Patienten vorausgesetzt.

Mit dem DMSG-Zertifikat trägt das MS Zentrum Dresden neben seiner akademischen Funktion in Lehre und Forschung im nationalen und internationalen Kontext auch wesentlich zur regionalen und überregionalen Versorgung von Patienten bei. Es hält diagnostische Möglichkeiten wie zum Beispiel Bildgebung, Ganganalyse und spezielle Laboranalysen vor, die nur an wenigen Standorten verfügbar sind. Etwa 2.500 Patienten mit MS stellen sich in jedem Quartal vor und werden multidisziplinär betreut. Gerade im Hinblick auf die Corona–Pandemie wird beispielsweise nach Zusammenhängen zwischen Wirkstoffen und Verlaufsschwere einer COVID-19-Erkrankung international geforscht. Es erfolgt eine enge Kooperation mit der DMSG, die sich als verlässlicher Partner für MS-Erkrankte und ihre Angehörigen unter anderem mit zahlreichen Ratgebern und Onlineangeboten darstellt.

Weitere Informationen

http://msz.uniklinikum-dresden.de/