Neuer Therapieansatz für genetische Erkrankungen

Kleine Moleküle aus Pflanzen können die Folgen eines bestimmten Gendefekts korrigieren – Veröffentlichung in der Fachzeitschrift „Cells“

Eine neue potenzielle Therapie gegen Erbkrankheiten haben Biochemikerinnen des Fachbereichs Medizin der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) entwickelt. Prof. Dr. Ritva Tikkanen (Professur für Biochemie und Molekularbiologie) und ihrer Mitarbeiterin Dr. Antje Banning ist es gelungen, pflanzliche Substanzen zu identifizieren, die für eine Therapie der genetisch bedingten Erkrankungen Aspartylglukosaminurie (AGU) und spätinfantile neuronale Ceroid-Lipofuszinose (cLINCL) geeignet sein könnten, da diese kleinen Moleküle die negativen Auswirkungen des Gendefekts korrigieren. Die Ergebnisse haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun in der Fachzeitschrift „Cells“ publiziert.

AGU ist eine seltene Erbkrankheit, die zu schwerwiegenden Entwicklungsstörungen im Kindesalter und zu einer verkürzten Lebenserwartung führt. Viele Patientinnen und Patienten sterben bereits vor dem 30. Lebensjahr. Bisher gibt es für diese Erkrankung keine zugelassene Therapie. Bei cLINCL sind die Leitsymptome wie Epilepsie und Demenz bereits im frühen Kindesalter sichtbar, später erblinden die Patientinnen und Patienten, die in der Regel nicht älter als 20 Jahre werden. Obwohl es seit einigen Jahren eine Enzym-Ersatztherapie für cLINCL gibt, ist diese Therapie sehr teuer und erfordert einen invasiven Eingriff alle zwei bis drei Wochen.

Beide Erkrankungen werden durch Mutationen in den Genen für das Enzym Aspartylglukosaminidase (AGA) bzw. Tripeptidylpeptidase 1 (TPP1) verursacht. Diese Enzyme liegen in besonderen Zellorganellen, den Lysosomen, vor und sind an der Beseitigung von überflüssig gewordenen Eiweißstoffen beteiligt. Funktionieren diese Enzyme nicht ordnungsgemäß, häufen sich Eiweißstoffe an, was zur Fehlfunktion der Lysosomen und schließlich zum Tod der Zelle führt. Daher gehören AGU und cLINCL zu den sogenannten lysosomalen Speicherkrankheiten.

Damit funktionsfähige Enzyme synthetisiert werden können, muss die genetische Information durch den Vorgang der Transkription in eine Boten-RNA (mRNA) umgeschrieben werden. Hierbei entstehen zunächst Vorstufen der mRNA, die danach noch prozessiert werden, indem bestimmte Abschnitte entfernt werden. Nur wenn diese Prozessierung korrekt abläuft, kann auch ein Enzym wie AGA oder TPP1 synthetisiert werden. Bestimmte Gendefekte verhindern jedoch die richtige Prozessierung, sodass der mRNA wichtige Abschnitte fehlen und kein korrektes Enzym synthetisiert werden kann.

Prof. Dr. Tikkanen und Dr. Banning haben kleine, natürlich vorkommende Substanzen identifiziert, die die Prozessierung der mRNA-Vorstufen bei Gendefekten korrigieren können. Dadurch entstehen trotz Mutation eine vollständige mRNA und aktive Enzyme. „Dadurch kann die Akkumulation der nicht abgebauten Eiweißstoffe aufgehoben werden, sodass die identifizierten Substanzen als Therapie für AGU und cLINCL geeignet sein könnten“, so Prof. Tikkanen. „Da es sich um natürliche Substanzen aus Pflanzen handelt, sind die identifizierten Moleküle aus den Klassen der Methylxanthine bzw. Flavonoide sehr nebenwirkungsarm und daher gut für eine Therapie geeignet.“

Etwa 15 Prozent aller genetischen Erkrankungen werden durch Mutationen verursacht, die zu Defekten bei der Prozessierung der mRNA führen. Daher besitzen die identifizierten Substanzen hohes Potenzial für die Anwendung bei zahlreichen anderen Erbkrankheiten, die auf ähnlichen Mutationen basieren. Die potenzielle Therapie wurde durch die JLU zur Patentierung angemeldet.

Originalpublikation:

Banning A, Tikkanen R (2021). Towards splicing therapy for lysosomal storage disorders: methylxanthines and luteolin ameliorate splicing defects in aspartylglucosaminuria and classic late infantile neuronal ceroid lipofuscinosis. Cells, 10, 2813.
https://doi.org/10.3390/cells10112813