Alzheimer-Erkrankung: Schützende Immunzellen schon Jahrzehnte vor Ausbruch aktiv

Stärkung der Abwehrkräfte des Gehirns könnte helfen, die Erkrankung zu bekämpfen

Bei Menschen mit einer genetischen Veranlagung für Alzheimer beginnen die Immunzellen des Gehirns – die „Mikroglia“ – bis zu zwei Jahrzehnte vor dem Auftreten von Symptomen eine schützende Wirkung zu entfalten. Zu diesem Schluss kommt ein Team des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) und der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München auf Grundlage einer Studie an mehr als 200 Probanden, über die sie im Fachjournal „The Lancet Neurology“ berichten. Vor dem Hintergrund ihrer Studiendaten halten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine gezielte Beeinflussung der Mikroglia für einen vielversprechenden Therapieansatz. Dazu wollen sie Medikamente entwickeln, die auf einen zellulären Rezeptor namens TREM2 einwirken.

Etwa ein Prozent der Menschen mit Alzheimer entwickeln die Erkrankung infolge von Genmutationen, die von Generation zu Generation vererbt werden können. Im Rahmen des internationalen Beobachtungsstudie DIAN (Dominantly Inherited Alzheimer Network) beteiligen sich das DZNE und die LMU München an der Erforschung dieser genetisch bedingten Form der Alzheimer-Erkrankung. Zur Studienkohorte von DIAN zählen neben Erwachsenen mit Genmutationen, die Alzheimer auslösen, auch nahe Verwandte ohne solche Mutationen.

Mehrjährige Messreihe

Für die aktuellen Untersuchungen analysierte ein Team um den Molekularbiologen Prof. Christian Haass und der Neurologin Dr. Estrella Morenas-Rodríguez wie Anzeichen für eine erhöhte Aktivität der Mikroglia mit der Entwicklung bestimmter Biomarker der Alzheimer-Erkrankung zusammenhingen. Hierfür wurden das Nervenwasser und die geistige Leistungsfähigkeit von 248 Teilnehmenden der DIAN-Studie – sie deckten die verschiedenen Stadien der Alzheimer-Erkrankung ab – über mehrere Jahre hinweg analysiert. Die Probanden wurden außerdem mittels Magnetresonanztomografie (MRT) und Positronen-Emissionstomografie (PET) untersucht, um eine Schrumpfung des Gehirns und die sogenannte Amyloid-Pathologie zu erfassen – beides sind Kennzeichen von Alzheimer.

Ausgangspunkt für das Forschungsteam war ein Eiweißstoff namens TREM2. „Das ist ein Rezeptor auf der Oberfläche von Mikroglia, Teile davon können sich jedoch ablösen und sind dann im Nervenwasser nachweisbar. Man weiß aus Laborstudien, insbesondere an Mäusen, aber auch aus unseren vorherigen Studien am Menschen, dass der Spiegel von TREM2 im Nervenwasser ein guter Indikator für die Aktivität der Mikroglia ist. TREM2 ist eine Art Aktivitätsschalter. Mit dem TREM2-Spiegel wächst auch die schützende Aktivität der Mikroglia.“, erläutert Christian Haass, Forschungsgruppenleiter am DZNE und Professor für Biochemie an der LMU München. „Lange ist man davon ausgegangen, dass die Mikroglia im Zuge von Alzheimer hauptsächlich Schaden anrichten, da sie chronische Entzündungsprozesse befeuern können. Es mehren sich jedoch die Hinweise dafür, sowohl aus meinem Labor als auch von vielen anderen, dass die Mikroglia zumindest am Anfang der Erkrankung eine Schutzwirkung haben. Diese Vermutung wird durch unsere aktuellen Daten bestärkt.“

Estrella Morenas-Rodríguez, zum Zeitpunkt der Studie Postdoc-Wissenschaftlerin im Team von Haass und nun Juniorgruppenleiterin am Hospital Universitario 12 de Octubre im spanischen Madrid, fügt hinzu: „Ein entscheidender Faktor, der unsere Beobachtungen ermöglichte, und der auch eine Herausforderung darstellte, war, dass wir zum ersten Mal in der Lage waren, den Anstieg des TREM2-Markers longitudinal zu untersuchen. Das heißt, wir haben den Marker in mehreren Proben gemessen, die jeweils von denselben Personen stammten und alle ein oder zwei Jahre entnommen wurden. Damit könnten wir die Entwicklung der verschiedenen Prozesse, die bei der Alzheimer-Krankheit ablaufen, besser erfassen als mit der Untersuchung von Proben zu nur einem einzigen Zeitpunkt.“

Lange im Voraus auffällig

Menschen mit einer genetischen Veranlagung für Alzheimer erkranken in der Regel im ähnlichen Alter wie ihre Verwandte mit der gleichen Mutation, die Demenzsymptome bereits aufweisen. Anhand dieser Erfahrungswerte konnten die Forschenden den Zeitraum bis zum Ausbruch von Symptomen für alle Studienteilnehmenden individuell abschätzen. Dabei stießen sie auf frühzeitige Anzeichen einer Erkrankung. „Wir haben festgestellt, dass der TREM2-Wert im Nervenwasser bereits bis zu 21 Jahre vor dem geschätzten Ausbruch der Erkrankung ansteigt“, so Haass. „Außerdem haben wir beobachtet, dass je schneller TREM2 im Laufe der Jahre ansteigt, desto langsamer schreiten im Gehirn krankhafte Prozesse voran, die für Alzheimer typisch sind. Das können wir aus Biomarkern für sogenannte Amyloid-Proteine und Tau-Proteine ableiten.“

Die Untersuchungen des Gehirns mittels MRT und PET wiesen in ähnliche Richtung: Bei Studienteilnehmenden, bei denen der TREM2-Wert rasch anstieg, entwickelten sich die für Alzheimer charakteristischen Ablagerungen von Amyloid-Proteinen langsamer und das Hirnvolumen ging langsamer zurück. „Neben dem Zusammenhang mit einem langsameren pathologischen Prozess war es einer unserer wichtigsten und vielversprechendsten Befunde, dass der schnellere TREM2-Anstieg mit einem langsameren kognitiven Abbau in einem frühen Stadium der Alzheimer-Krankheit einhergeht. Das hat wichtige Auswirkungen auf die Behandlung“, so Morenas-Rodríguez.

„Wir sehen unsere Befunde als Beleg dafür, dass die von TREM2-vermittelte Aktivität der Mikroglia eine schützende Wirkung hat“, so Haass. „Nach unserer Ansicht werden die Mikroglia aktiv, sobald sich erste Amyloid-Proteine im Gehirn ablagern. Diesen Vorgang nennt man Seeding. Sie werden also schon in einer extrem frühen Phase der Alzheimer-Erkrankung aktiv, lange bevor Ärzte Auswirkungen auf die Gedächtnisleistung sehen. Das beobachten wir und unsere Kolleginnen und Kollegen vom DZNE-Standort Tübingen auch im Tiermodell.“

Ansatz für neue Therapien

Schon seit einiger Zeit forscht das Team um Haass an Wirkstoffen, die die schützende Wirkung der Mikroglia gezielt stärken sollen. Als Ansatzpunkt dient der auf der Zelloberfläche verankerte TREM2-Rezeptor. „Wir sind noch in der Laborphase. Die aktuellen Ergebnisse beim Menschen zeigen jedoch, dass die Beeinflussung von TREM2 eine vielversprechende Strategie ist, um neue Optionen gegen Alzheimer zu entwickeln. Auch wenn wir in diesem speziellen Fall die genetisch bedingte Form der Erkrankung untersucht haben, gehen wir davon aus, dass unsere Befunde auch für die sogenannte sporadische Krankheitsvariante gelten, die weitaus häufiger vorkommt. Entscheidend ist sicherlich, dass die Behandlung frühestmöglich beginnt. Die heutigen Therapien kommen alle viel zu spät, um wirklich wirksam zu sein“, so Haass.

Über das DZNE: Das DZNE ist eine Forschungseinrichtung, die sich mit sämtlichen Aspekten neurodegenerativer Erkrankungen (wie beispielsweise Alzheimer, Parkinson und ALS) befasst, um neue Ansätze der Prävention, Therapie und Patientenversorgung zu entwickeln. Durch seine zehn Standorte bündelt es bundesweite Expertise innerhalb einer Forschungsorganisation. Das DZNE kooperiert eng mit Universitäten, Universitätskliniken und anderen Institutionen im In- und Ausland. Es wird öffentlich gefördert und ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft.

Originalpublikation

Soluble TREM2 in CSF and its association with other biomarkers and cognition in autosomal-dominant Alzheimer’s disease: a longitudinal observational study
Estrella Morenas-Rodríguez et al.
The Lancet Neurology (2022).
DOI: https://doi.org/10.1016/S1474-4422(22)00027-8

Weitere Informationen

Kommentar, The Lancet Neurology (2022): Dynamics of neuroinflammation in Alzheimer’s disease
„Übereifrige“ Immunzellen scheinen dem Gehirn gut zu tun, DZNE (2022)