Neu entdeckte Verbindung: Motorische Zentren im Gehirn können chronischen Schmerz lindern

Forschungsarbeit aus Heidelberger Sonderforschungsbereich (SFB) 1158 „Von der Nozizeption zum chronischen Schmerz“ in „Science“ erschienen / Forschende der Medizinischen Fakultät Heidelberg klären erstmals schmerzlindernde Mechanismen bei Aktivierung der motorischen Großhirnrinde / Erkenntnisse könnten gezielte Behandlung therapieresistenter Schmerzen verbessern

Die motorische Großhirnrinde steuert die willentliche Bewegung der Muskulatur. Weitestgehend unverstanden ist, warum ihre elektrische oder magnetische Stimulation therapieresistente chronische Schmerzen – wenn auch unzuverlässig – lindern kann. Eine interdisziplinäre Forschungsgruppe der Medizinischen Fakultät Heidelberg (MFHD) ist nun an Mäusen den zugrundeliegenden Mechanismen und beteiligten Nervenbahnen auf die Spur gekommen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zeigten, dass bestimmte Nervenschaltkreise der motorischen Großhirnrinde mit den Emotionszentren im Gehirn verbunden sind, nach direkter Aktivierung sowohl Schmerzinformationen als auch Schmerzemotionen verarbeiten und so das Schmerzempfinden reduzieren. Damit definiert das Team nicht nur eine neue Zielstruktur des Gehirns für Schmerztherapien durch Nervenzellstimulation, sondern rückt auch das hirneigene Belohnungssystem als Ansatzpunkt für zukünftige Behandlungen in den Fokus. Die Ergebnisse sind jetzt online in „Science“ erschienen.

Die Forschungsarbeit ist im Rahmen des Heidelberger Sonderforschungsbereichs (SFB) 1158 „Von der Nozizeption zum chronischen Schmerz“ entstanden. Sprecherin ist Professorin Dr. Rohini Kuner, Direktorin des Pharmakologischen Instituts an der MFHD.

Sprechen chronische Schmerzen, z.B. in Folge einer Nervenverletzung (sog. neuropathische Schmerzen), nicht auf medikamentöse Therapien an, kommt eine sogenannte Hirnstimulation in Frage. Dabei werden nicht-invasive Elektroden auf der Kopfhaut platziert und bestimmte Großhirnregionen mittels elektrischer oder magnetischer Reize stimuliert. „Es gibt großen Verbesserungsbedarf bei dieser Therapie, da man kaum etwas über die Funktionsweise der Stimulation weiß, z.B. wo die Sonden am besten platziert werden sollten, über welche Nervenbahnen die Schmerzlinderung erreicht wird und wie diese Schaltkreise auf die Stimulation reagieren“, erläutert Prof. Kuner, Seniorautorin des Artikels. „Unsere Ergebnisse sind ein wichtiger Beitrag, um die neurobiologischen Grundlagen der Hirnstimulation bei chronischen Schmerzen zu erklären und als therapeutisches Verfahren weiterzuentwickeln.“

Belohnungssystem des Gehirns spielt offenbar wichtige Rolle

Für ihre Arbeit nahmen sich die Forschenden mit dem sogenannten motorischen Kortex den Teil der Großhirnrinde vor, dessen Stimulation bislang den größten Effekt bei chronischen Schmerzen bewirkt. Er besteht aus sechs Schichten, die unterschiedlich vernetzt sind. Die verschiedenen Nervenbahnen dieses Hirnbereichs schaltete das Team um Erstautor Zheng Gan, Wissenschaftler in Kuners Arbeitsgruppe, mit Hilfe genetischer Veränderungen in lebenden Mäusen gezielt an oder aus, um ihren Einfluss auf das Schmerzempfinden zu überprüfen. „Wir haben gezeigt, dass tatsächlich der motorische Kortex, genauer die Region M1, der Schlüssel zur Schmerzlinderung ist. Das wurde bisher zwar vermutet, war aber nicht wissenschaftlich belegt“, sagt Zheng.

Das Team identifizierte zudem zwei Nervenzellschaltkreise in den beiden untersten Schichten des Motorkortex, die zentral für die Schmerzlinderung verantwortlich sind: In der vorletzten Schicht 5 sind dies jene Nervenzellen, die über das Rückenmark die Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung beeinflussen. Ihre Aktivierung verringerte zwar die Überempfindlichkeit der zentralen Schmerzbahnen, konnte jedoch das dauerhaft bestehende, reizunabhängige Schmerzempfinden nicht komplett ausschalten. Erst wenn bestimmte Nervenzellen der untersten Schicht 6 aktiv waren, trat vollständige Linderung ein. „Wir waren überrascht, dass diese Nervenbahnen mit dem Belohnungssystem in tieferen Gehirnbereichen, die Emotionen verarbeiten, verbunden sind“, so Prof. Kuner. „Sie beeinflussen wahrscheinlich die emotionale Komponente des Schmerzerlebens. Diese Verbindung war bisher nicht bekannt und wirft interessante neue Fragestellungen auf.“

Aus den Ergebnissen lassen sich Empfehlungen für die Anwendung der Hirnstimulation bei chronischen Schmerzen ableiten: Damit sie eine optimale Wirkung entfalten kann, muss sie die beiden unteren Schichten des Motorcortex erreichen. Darüber hinaus können nun basierend auf dieser Arbeit Parameter zur Therapiekontrolle entwickelt und somit die Methode verfeinert werden.

Interdisziplinäre Kooperationen im Rahmen des SFB „Von der Nozizeption zum chronischen Schmerz“

Die Arbeit entstand in interdisziplinärer Kooperation mit mehreren Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen der Medizinischen Fakultät Heidelberg, die im Rahmen des SFB 1158 zusammenarbeiten. Beteiligt sind unter anderem Prof. Dr. Thomas Kuner vom Institut für Anatomie und Zellbiologie, Prof. Dr. Alexander Groh vom Institut für Physiologie und Pathophysiologie sowie Dr. Sebastian Wieland von der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik des Universitätsklinikums Heidelberg.

Literatur

Gan Z, Gangadharan V, Liu S, Körber C, Tan LL, Li H, Oswald MJ, Kang J, Martin-Cortecero J, Männich D, Groh A, Kuner T, Wieland S, Kuner R. Layer-specific pain relief pathways originating from primary motor cortex. Science. 2022 Dec 23;378(6626):1336-1343. doi: 10.1126/science.add4391. Epub 2022 Dec 22. PMID: 36548429.

Weitere Informationen im Internet

AG Kuner an der MFHD
SFB 1158