Was Gewebe nachgiebig und doch so zäh macht

ETH-Ingenieure haben herausgefunden, dass sich weiche biologische Gewebe unter Zugspannung ganz anders verformen als bisher angenommen. Ihre Forschungsergebnisse fliessen bereits in medizinische Forschungsprojekte ein.

Im Mutterleib schwimmt das Ungeborene in einer mit Fruchtwasser prall gefüllten Fruchtblase. Dass diese intakt bleibt, ist für eine reibungslose Entwicklung des Babys sehr wichtig. Doch es kann geschehen, dass die schützende Hülle nach Eingriffen wie Fruchtwasserpunktionen und Operationen oder auch ganz spontan reisst.

Gedehntes Gewebe verliert Volumen

Ausgehend von solchen medizinischen Problemen haben Forschende der Gruppe von Edoardo Mazza, Professor am Institut für mechanische Systeme an der ETH Zürich, untersucht, wie sich Teile der Fruchtblase und andere biologische Gewebe unter Zugbelastung verformen. Eines ihrer wichtigsten und überraschendsten Resultate: Die Gewebe verlieren bei einer Dehnung an Masse – bei einer physiologischen Dehnung von 10 Prozent durchschnittlich rund 50 Prozent.

«Das widerspricht dem bisher geltenden Paradigma, wonach sich solche weichen biologischen Gewebe zwar stark verformen können, ihr Volumen dabei aber unverändert bleibt», erklärt der Biomechaniker Mazza. Seine Gruppe konnte anhand von Messungen an Gewebeproben zeigen, dass der Volumenverlust darauf zurückzuführen ist, dass Flüssigkeit, die im Gewebe zwischen Zellen und Kollagenfasern eingelagert ist, aus dem gedehnten Bereich entweicht.

Zusammenspiel von Mechanik und Chemie

Den Mechanismus dahinter konnte Alexander Ehret, Teamleiter in Mazzas Gruppe, zusammen mit seinem Team und mithilfe umfangreicher Computersimulationen aufklären. Die Grundlage dafür ist die Ausrichtung der Kollagenfasern im Gewebe. Die Fasern bilden eine Art dreidimensionales Netz, in dem sie in einer Ebene flächig in alle Himmelsrichtungen verlaufen und nur geringfügige Abweichungen nach oben und nach unten zeigen.

Zieht man an diesem Geflecht, rücken alle Kollagenfibrillen, die mehr oder weniger in Zugrichtung liegen, in einer Art Scherenbewegung näher zusammen und pressen die Flüssigkeit aus dem Gewebe heraus. Die Fasern bleiben unbeschädigt, da sie vor allem in eine Ebene verschoben und allenfalls leicht gedehnt werden.

Der Volumenverlust ist reversibel. Entspannt sich das Gewebe wieder, nimmt es wieder Wasser aus dem umliegenden Gewebe auf. «Der Grund dafür sind mit den Kollagenfasern fest verbundene Makromoleküle mit negativen Ladungen», erklärt Mazza. Sie bringen das Wasser dazu, nach den Prinzipien der Osmose wieder ins Gewebe zurückzuströmen. Der Vorgang lässt sich im Experiment problemlos viele Male wiederholen.

Gewebe auf dem Prüfstand

Die Verdichtung der Kollagenfasern ist vor allem bei Verletzungen äusserst nützlich, wie weitere Experimente der Wissenschaftler zeigten: Schneidet man gespanntes weiches biologisches Gewebe ein, bildet sich ein Riss, doch an der Rissspitze rücken die Kollagenfasern zusammen. «Wird das Gewebe dann weiter gespannt, reicht diese Verstärkung in der Regel, um zu vermeiden, dass der Riss weiter wächst», erklärt Ehret.

Die Apparaturen, Hilfsmittel und Protokolle, die die Forschenden für ihre Experimente benötigten, entwickelten sie in den letzten zehn Jahren eigens für solche Untersuchungen. So konnten sie sowohl grössere Gewebestücke als auch mikroskopisch kleine Gewebeteile in einer oder in mehreren Richtungen spannen – etwa durch Aufblasen. Es gelang ihnen auch, die Reaktion des Gewebes zu quantifizieren, sowie die beobachteten Effekte mittels ebenfalls selbst entwickelten Computersimulationen zu beschreiben und zu erklären.

Direkte Anwendungen in der Medizin

Doch Mazza und Ehret ging es nicht nur darum, zu verstehen, wie sich Gewebe unter Zugspannung verhält. «Wir sind Ingenieure», sagt Mazza. Und als solche arbeiten sie am liebsten an praktischen Lösungen im richtigen Leben. Die neuen Erkenntnisse fliessen deshalb direkt in konkrete medizinische Fragestellungen ein.

Zum Beispiel ins «Tissue Engineering», die künstliche Herstellung von biologischen Geweben, die geschädigtes Gewebe bei Patienten regenerieren oder ersetzen sollen. Die Forschenden möchten aufgrund der neuen Erkenntnisse vor allem bei den Trägermaterialien ansetzen, auf denen diese Gewebe gedeihen.

«Unser Ziel ist, für die künstlichen Gewebe möglichst physiologische Bedingungen zu schaffen, also die Natur möglichst genau zu imitieren», erklärt Mazza. Er und seine Mitarbeiter sind überzeugt, dass Zellen im wachsenden Gewebe vom Trägermaterial Signale erhalten, die für die späteren Eigenschaften des Ersatzgewebes eine wichtige Rolle spielen.

Dabei messen die Wissenschaftler der Interaktion zwischen Chemie und Mechanik eine fundamentale Rolle bei. «Es ist entscheidend, dass das Trägermaterial über die richtigen Eigenschaften verfügt. Dazu gehört insbesondere das richtige Zusammenspiel zwischen geladenen Makromolekülen und Kollagenfasern», erklärt Ehret.

Schneller neue Haut für Verbrennungsopfer

Konkret planen die Forschenden, sich an einem Projekt des Kinderspitals Zürich zu beteiligen, bei dem es darum geht, Hautersatz für Verbrennungsopfer besser und schneller zu züchten. Die Zusammenarbeit soll im Rahmen des Projekts Skintegrity des Verbunds Hochschulmedizin Zürich stattfinden. Den Projektantrag haben die Forschenden Ende September beim Schweizerischen Nationalfonds eingereicht.

Bereits heute bringt Mazzas Gruppe ihr Expertenwissen in ein Projekt des Universitätsspitals Zürich ein, dass sich mit den erwähnten Rissen in der Fruchtblase beschäftigt. Zunächst ging es dort darum, herauszufinden, welche Eigenschaften Gewebe haben müssen, mit dem sich allfällige Verletzungen reparieren lassen. Unterdessen liegt der Fokus auf der Frage, wieso diese überhaupt entstehen. Auch hier sind die Biomechaniker in ihrem Element. «Bei solchen Projekten mit medizinischer Relevanz einen Beitrag leisten zu können», sagt Mazza, «finden wir sehr motivierend.»

Literaturhinweis

Ehret AE, Bircher K, Stracuzzi A, Marina V, Zündel M, Mazza E: Inverse poroelasticity as a fundamental mechanism in biomechanics and mechanobiology, 17. Oktober 2017, doi: 10.1038/s41467-017-00801-3