Kandidat für therapeutische Präzisionsmedizin bei schweren Depressionen: Blutwert Acetyl-L-Carnitin (LAC)

Original Titel:
Acetyl-l-carnitine deficiency in patients with major depressive disorder.

MedWiss – Die Ergebnisse einer neuen Analyse zeigen, dass Acetyl-L-Carnitin (LAC) im Blut depressive Erkrankungen messbar machen könnte. Besonders niedrige Werte deuten offenbar auf besonders ausgeprägte, oft behandlungsresistente Depressionen, die sich in früherem Alter zeigen und häufiger in Zusammenhang mit traumatischen Erlebnissen in der Kindheit stehen. Weitere Studien zu Behandlungen von Depressionen mit zusätzlichem LAC müssen nun klären, ob diese körpereigene Substanz zur Therapie bei Menschen genutzt werden kann, wie vorher schon in Tierstudien. Auch die Effekte von anderen antidepressiven Therapien auf die LAC-Blutwerte müssten nun gesondert analysiert werden. Der Studienbericht könnte wesentlich zum Verständnis der Behandlung von unipolarer, aber auch bipolarer Depression beitragen. Mit den gefundenen Zusammenhängen zwischen Blutwerten und traumatischen Erfahrungen könnten sich auch neue Behandlungswege für posttraumatische Stressstörungen (PTSD) aufzeigen.


Manche Krankheiten sind unsichtbar: man sieht es einem Menschen nicht an, ob er unter Ängsten leidet oder depressiv ist. Solche Erkrankungen sind bisher kaum mithilfe von ärztlichen Tests wie Blutwerten nachweisbar. Dies ist gerade bei Depressionen und generell den affektiven Störungen, wie auch der Bipolaren Störung, ein Problem: fehlen messbare Werte, die die Erkrankung in Zahlen fassen lassen, dann fehlt auch die Möglichkeit mit Medikamenten messbar und nachweisbar auf die Erkrankung einzuwirken. Die sogenannte Präzisionsmedizin, mit der bestimmte ‚Marker‘ für eine Erkrankung gezielt verändert werden, ist also derzeit noch nicht möglich. Ob ein Medikament ausreichend wirkt, ist entsprechend bei Depressionen auch bisher noch eine Frage des Ausprobierens, Abwartens und somit eine Geduldsprobe.

Blutwerte für Präzisionsmedizin bei affektiven Störungen gesucht

Inzwischen finden Wissenschaftler aber mehr und mehr verschiedene Blutwerte, die bei affektiven Störungen auffällig verändert zu sein scheinen. Dazu gehört womöglich auch das körpereigene Acetyl-L-Carnitin (kurz LAC). Dieses Molekül ist besonders für seine Aufgaben im Lernzentrum des Gehirns, dem Hippocampus, bekannt und wirkt in verschiedenen Verhaltensbereichen aktiv mit. Frühere Studien fanden, dass bei depressiv erscheinenden Nagetieren die Blutkonzentrationen von LAC deutlich erniedrigt waren. Dabei waren auch Veränderungen im Hippocampus messbar. Bekamen die Nager zusätzliches LAC in der Nahrung, verbesserten sich die depressiven Symptome rasch und anhaltend: es traten sogenannte epigenetische Veränderungen auf (Nasca und Kollegen, 2013 im Fachjournal PNAS erschienen). Epigenetisch nennt man Änderungen am genetischen Code von Zellen, die durch Umwelteinflüsse, nicht Vererbung, auftreten.

Zuwenig Acetyl-L-Carnitin (LAC) im Blut macht Nager depressiv – aber auch Menschen?

Aber wie sieht der LAC-Blutwert bei Menschen aus? Dies ermittelte Neuroendokrinologin Dr. Nasca von der Rockefeller University in New York mit Kollegen verschiedener Institute in den USA und Schweden bei Patienten mit unipolarer Depression sowie bei einer gesunden Kontrollgruppe in vergleichbarer Alters- und Geschlechtszusammensetzung. Weiter ermittelten die Wissenschaftler, ob die Menge an LAC im Zusammenhang mit dem Schweregrad der Depression und dem Alter des Erkrankungsbeginns stand. Die Untersuchung wurde in zwei voneinander unabhängigen Studienzentren durchgeführt, die auch getrennt Teilnehmer rekrutierten.

Blutwerte im Vergleich zwischen depressiven und gesunden Menschen

116 Menschen wurden untersucht (53 in Studienzentrum 1, 63 in Studienzentrum 2), davon 45 gesunde Kontrollen und 71 Patienten mit unipolarer Depression. Die Teilnehmer waren im Mittel 38 Jahre (Kontrollen) und knapp 41 Jahre (Patienten) alt. Die meisten Patienten (67,6 %) hatten bereits mindestens drei depressive Episoden durchlebt. Tatsächlich fanden sie, dass die LAC-Werte bei Menschen mit Depressionen, im Vergleich zu gesunden Menschen, klar messbar erniedrigt waren. Die Grundzutat des LAC, freies Carnitin, aus dem im Gehirn LAC hergestellt wird, war dagegen in normalen Mengen vorhanden. Interessanterweise zeigten sich besonders niedrige LAC-Werte besonders bei Menschen, die unter stärkeren Depressionen litten und früher erkrankt waren. Die Werte waren auch besonders niedrig bei Patienten mit einer behandlungsresistenten Depression. Auch traumatische Kindheitserlebnisse und emotionale Vernachlässigung waren häufiger bei den Patienten mit niedrigsten LAC-Werten zu finden. Niedrige Werte wurden auch häufiger bei Frauen als bei Männern gemessen.

Niedrige LAC-Konzentrationen bei besonders schweren und behandlungsresistenten Depressionen

Die Ergebnisse dieser Analyse deuten an, dass die Menge an LAC ein möglicher Blutwert sein könnte, um depressive Erkrankungen zu erkennen. Besonders niedrige Werte deuten offenbar auf besonders ausgeprägte, oft behandlungsresistente Depressionen, die sich in früherem Alter zeigen und häufiger in Zusammenhang mit traumatischen Erlebnissen in der Kindheit stehen. Weitere Studien zu Behandlungen von Depressionen mit zusätzlichem LAC müssen nun klären, ob diese körpereigene Substanz zur Therapie bei Menschen genutzt werden kann, wie vorher schon in Tierstudien. Auch die Effekte von anderen antidepressiven Therapien auf die LAC-Blutwerte müssten nun gesondert analysiert werden. Der Studienbericht könnte wesentlich zum Verständnis der Behandlung von unipolarer, aber auch bipolarer Depression beitragen. Mit den gefundenen Zusammenhängen zwischen Blutwerten und traumatischen Erfahrungen könnten sich auch neue Behandlungswege für posttraumatische Stressstörungen (PTSD) aufzeigen.

© Alle Rechte: HealthCom