Dem Chip das Sehen beibringen

Organs-on-a-Chip haben das Potenzial, die Arzneimittelentwicklung zu revolutionieren. Forscherinnen und Forschern am Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB ist es gelungen, verschiedene Gewebe auf Chips zu bringen. Der jüngste Clou: die Nachbildung menschlicher Netzhaut als Retina-Organoid. Im nächsten Schritt will das Forscherteam mit der Organ-on-a-Chip-Technologie die geschlechterspezifische Medizin erschließen.

Organ-on-a-chip-Systeme stellen eine große Bereicherung für die medizinische Forschung dar: An Gewebekulturen in den Kammern eines Kunststoffchips können Wirkstoffe getestet, Krankheitsursachen und Therapieansätze erforscht werden. Im Innern der briefmarkenkleinen Polymermodule werden winzige Gewebe und Organoide über Mikrokanäle von einer Nährflüssigkeit am Leben gehalten. Die Systeme bieten eine Alternative zu Tierversuchen (siehe Kurzinterview).

In dieser Technik gibt es mittlerweile eine breite Palette: Herzmuskel und Leber, Niere und sogar Hirngewebe. Zu den Organ-on-a-Chip-Pionieren in Europa zählt die Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Peter Loskill am Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB in Stuttgart. Dem Team ist es als bisher einzigem gelungen, unter anderem menschliches Fettgewebe und die Netzhaut des Auges in einem Chip nachzubilden. Nachdem es geglückt ist, die verschiedensten Gewebe auf Chips zu bringen, gilt es nun, den Durchsatz der zu testenden Substanzen zu erhöhen. Die Zukunft sind »Organ-on-a-Disc« – mit hunderten menschlichen Gewebeteilchen auf einer handlichen Scheibe. Sie können der Technologie zum Durchbruch im Routineeinsatz verhelfen.

Retina-on-a-Chip

Aktuell ist »Retina-on-a-Chip« eines der Highlights in Loskills Labor – mit dem komplex aufgebauten Gewebe der menschlichen Netzhaut als Organoid. Dr. Loskill und sein Team sind gerade dabei, der Retina auf dem Chip das Sehen beizubringen. Gemeinsam mit ihren Kooperationspartnern an der Universität Tübingen ist es ihnen gelungen, Stammzellen so zu differenzieren und in die Chips zu integrieren, dass sie ein mehrschichtiges Gewebe ausbilden. Es besteht unter anderem aus den lichtempfindlichen Stäbchen und Zapfen, dem Pigmentepithel und Ganglionzellen, die den optischen Nerv bilden. »Wenn wir die Retina belichten, messen wir in den Stäbchen und Zapfen ein elektrophysiologisches Signal«, erklärt Peter Loskill. »Jetzt arbeiten wir an einem System, mit dem wir dieses Signal quantitativ auslesen können.«

Erkrankungen der Netzhaut erforschen

Sobald dies existiert, wird gemessen werden können, wie stark eine Substanz das »Sehvermögen« der Retina auf dem Chip beeinflusst. »Die Pharmaindustrie hat großes Interesse an der Retina-on-a-Chip«, verdeutlicht Loskill. »Denn viele Arzneistoffe können Nebenwirkungen an der Retina verursachen.« Modellsysteme sind bislang rar. Und Tiermodelle sind nur begrenzt einsetzbar, da die Netzhaut von Tieren anders aufgebaut ist als die des Menschen. Gleichzeitig eignet sich der Chip dazu, Erkrankungen der Netzhaut zu erforschen und Medikamente zu entwickeln, zum Beispiel gegen die altersbedingte Makuladegeneration oder gegen die diabetische Retinopathie.

Die Rolle des Fettgewebes entschlüsseln

Medizinisch noch relevanter sind die Chips mit weißem Fettgewebe. Angelehnt an die englische Bezeichnung »White Adipose Tissue« werden die Systeme »WAT-on-a-Chip« genannt. Das Fettgewebe ist allein schon seiner Masse wegen bedeutsam. Ein Viertel des Körpers eines gesunden Menschen besteht aus Fettgewebe. Bei adipösen Menschen macht es bis zur Hälfte des Gewichts aus. Erst in jüngerer Zeit wurde deutlich, dass das Fettgewebe viele Hormone und andere Botenstoffe in den Blutkreislauf ausschüttet. Vieles ist hier noch unverstanden. Die »WAT-on-a-Chip«-Systeme können helfen, die Rolle des Fettgewebes im Körper besser zu verstehen und damit verbundene Erkrankungen, wie zum Beispiel Diabetes, gezielter zu therapieren. Außerdem lässt sich auf dem Chip verfolgen, wie Stoffe in die Fettzellen eingelagert werden und ob sich Pflanzenschutzmittel oder auch Mikroplasik im Fettgewebe anreichern.

Forschen für die geschlechterspezifische Medizin

Mit den »Organ-on-a-Chip«-Systemen will Peter Loskill ein weiteres Forschungsfeld erschließen: geschlechtsspezifische Medizin. »Viele Krankheiten zeigen bei Frauen und Männern unterschiedliche Ausprägung«, betont er. »Dieser Aspekt wird in der medizinischen Forschung und Arzneimittelentwicklung viel zu wenig berücksichtigt.« Die »Organ-on-a-Chip« bieten die Möglichkeit, Gewebe von Männern und Frauen getrennt zu untersuchen. Auf dem Chip kann man auch die Dynamik des weiblichen Hormonzyklus simulieren und beobachten, welchen Einfluss er auf eine Erkrankung und potenzielle Medikamente hat.

 

Kurzinterview

Herr Loskill, wird sich durch »Organs-on-a-Chip« die Masse der Tierversuche verringern lassen?

Loskill: Ganz sicher. Wir stellen bereits jetzt fest, wie groß das Interesse der Pharmaindustrie ist. Die Chips können in allen Bereichen eingesetzt werden – vom Screening nach neuen Wirkstoffen über Toxizitäts-Tests bis zur Begleitung klinischer Studien.

Werden die Zulassungsbehörden »Organ-on-a-Chip«-Daten als Ersatz für Tierversuche akzeptieren?

Loskill: Auch sie stehen der Technologie sehr aufgeschlossen gegenüber. Ich arbeite in zwei EU-Projekten mit mehreren regulatorischen Behörden zusammen, unter anderem mit dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte BfArM.

Wird Ihre Technologie Tierversuche langfristig komplett überflüssig machen?

Loskill: Man wird Tierversuche nicht eins zu eins ersetzen können. Mit den Chips ist aber eine Datenquelle dazu gekommen, die es ermöglichen wird, mit signifikant weniger Versuchstieren Sicherheit zu schaffen.