Drei Jahre #MeToo: Spirale von Macht und Gewalt ist sichtbar

Prof. Dr. Nadia Sosnowsky-Waschek, Psychologie-Professorin an der SRH Hochschule Heidelberg, analysiert die Auswirkungen des Hashtags und fordert, auch die Beraterinnen und Berater von Opfern verstärkt zu unterstützen.

Ein Hashtag macht Geschichte: Es begann mit dem Weinstein-Skandal im Oktober 2017, nachdem der US-amerikanische Filmproduzent Harvey Weinstein beschuldigt wurde, eine große Anzahl von Frauen sexuell belästigt zu haben. Alyssa Milano, Freundin eines Opfers von Weinstein und von Weinsteins damaliger Ehefrau, rief dazu auf, mit der Phrase „Me too“ auf sexuelle Belästigungen, Nötigungen oder Vergewaltigungen aufmerksam zu machen, die sich unter dem Deckmantel der Prominenz, der Partnerschaft oder wirtschaftlichen Abhängigkeit verstecken. #MeToo verbreitete sich anschließend viral: Am 15. Oktober wurde der Hashtag mehr als 200.000 mal auf Twitter verwendet, auf Facebook erschienen in den ersten 24 Stunden über 12 Millionen Postings dazu.

Prof. Dr. Nadia Sosnowsky-Waschek, Psychologie-Professorin an der SRH Hochschule Heidelberg, ordnet das virale Geschehen ein. Im Interview erklärt die Forscherin, die sich im Projekt Guide4You mit sexualisierter Gewalt an Frauen beschäftigt, welche Relevanz der Hashtag heute noch hat.

Welche psychischen Folgen hat eine sexuelle Belästigung, insbesondere, wenn sie im Umfeld einer Abhängigkeit geschieht?

So wie in vielen Bereichen, gibt es auch im Falle der sexuellen Belästigung graduelle Abstufungen der Intensität, Art und Wirkung auf Betroffene. Im Extremfall kann sexuelle Belästigung nämlich mit sexueller, psychischer oder gar physischer Gewalt in Zusammenhang gebracht werden. Für die Opfer ist dies zumeist ein einschneidendes, kritisches Lebensereignis, vielleicht sogar ein Trauma. Denn das Ereignis tritt in der Regel plötzlich auf, ruft Entsetzen und das Gefühl erlebten Kontrollverlusts aus und stellt das bisherige Wertesystem infrage.

Sexuelle Belästigungen können körperliche, psychische und soziale Folgen haben.
Geschieht die sexuelle Belästigung im Zusammenhang mit einer Abhängigkeit z.B. am Arbeitsplatz oder in der Partnerschaft, ist das Verlassen dieses Kontextes für die Betroffenen besonders schwierig. Wiederholen sich die Übergriffe, kann die durch den Kontrollverlust geförderte Resignation – also die Erwartung von Misserfolg – langfristige schädliche psychische Wirkungen entfalten. Die Betroffenen verlieren die Zuversicht in die Welt und in das Selbst, erleiden einen Verlust an Selbstwirksamkeit. Die Entwicklung psychischer Störungen ist dann umso wahrscheinlicher.

Warum haben sich viele Frauen oder auch Männer jetzt erst, oft Jahrzehnte nach der Belästigung, zu Wort gemeldet?

Gewalt- und Missbrauchserfahrungen sind scham- und schuldbesetzt. Viele Betroffene befinden sich zum Zeitpunkt der Tat in einer Lage, die durch ein deutliches Machtgefälle gekennzeichnet ist. Das Spektrum der Erfahrungen kann sehr groß sein – von dem anzüglichen Begrapschen bis hin zur Vergewaltigung. Diese spezifische und extreme Form von Machtmissbrauch hinterlässt Spuren. Wer gibt denn schon gerne Preis, dass man unterlegen, schwach, abhängig ist? Gesellschaftlich schwingt dann immer wieder implizit die Frage mit, ob das Opfer die Tat nicht selbst provoziert, also mitverursacht hat. Das damit verbundene Rechtfertigen und Erklären lässt das Geschehene wiederaufleben. Dies kann sehr belastend und schmerzhaft sein. Auf der anderen Seite kann diese soziale Öffnung auch der erste Schritt zur Bewältigung des Erlebten sein.

Welche Wirkung hat der Hashtag #meToo auf Frauen in aller Welt?

#MeToo hat das Thema der sexuellen, psychischen und körperlichen Gewalt in das Licht der Öffentlichkeit gebracht und damit einen Beitrag zur Entstigmatisierung geleistet. Das große Kontinuum der Wirkung, die Spirale von Macht und Gewalt wurde sichtbar. Unachtsam dahingeworfene Kommentare von Arbeitskollegen, sexistische Spitzen im Alltag von Paaren, Anzüglichkeiten im Privaten, Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts wurden plötzlich zum gesellschaftlichen Diskurs.

Gleichzeitig wurden in vielen Branchen sogenannte „etablierte“ Strukturen des Machtapparates aufgedeckt und hinterfragt. Die Verbundenheit mit anderen Betroffenen hilft, denn in einer größeren Gruppe fühlt man sich nicht mehr allein und sicherer. Die soziale Offenlegung des Geschehenen unterstützt so die persönliche Reifung und den therapeutischen Heilungsprozess. Gleichwohl muss man bedenken, dass gerade in den sozialen Medien, die Offenlegung re-traumatisierend wirken kann, wenn durch die virale Verbreitung der persönlichen Geschichte die Kontrolle entgleitet und man unerwartet statt Zuspruch und Unterstützung Hasskommentare oder dergleichen erfährt.

Was muss noch passieren, um der sexuellen Belästigung einen Riegel vorzuschieben?

Die schlechte Nachricht vorab: Solange es Machtgefälle und Abhängigkeiten gibt, wird es auch sexuelle Belästigungen in allen Formen geben. Die gute Nachricht ist aber, dass den Betroffenen zunehmend besser geholfen werden kann. Je vollständiger, bekannter und erreichbarer die Unterstützungsstrukturen, desto erfolgreicher.

Das durch die Europäische Union finanzierte Modellprojekt GUIDE4YOU der Stadt Heidelberg, das die SRH Hochschule Heidelberg wissenschaftlich begleitet, bietet beispielsweise eine solche Struktur. In einem Lotsinnensystem finden Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, individuelle und schnelle Unterstützung. Ziel ist es, betroffenen Frauen besonders in der Akutphase nach einem Übergriff den Zugang zu Hilfe zu erleichtern und sie individuell durch die einzelnen Stellen des Hilfesystems zu begleiten. Hierzu zählen neben der Polizei auch die Gewaltambulanz oder die Psychiatrie der Uniklinik, diverse Interventions- und Beratungsstellen, Opferschutz-Verbände, Selbsthilfegruppen und diverse andere Kontaktstellen. Unsere Projektgruppe untersucht dabei vor allem die psychische Verfassung der Frauen während dieses Prozesses.

Wo stoßen auch solche Projekte an ihre Grenzen?

Was bislang noch nicht im Fokus steht ist, dass auch die Beraterinnen und Berater in vielen relevanten sozialen Einrichtungen zuweilen an ihren Belastungsgrenzen arbeiten. Das, was die Frauen und Kinder berichten, ist viel schrecklicher als jeder Krimi. Das muss man erst verdauen können. Ich halte es für dringend notwendig, auch hier professionelle Unterstützungsstrukturen zu schaffen, möglicherweise durch regelmäßige Weiterbildungsangebote.