Zellen entscheiden ihr Schicksal im Kollektiv

Es ist eines der großen Rätsel in der Biologie – aus zunächst völlig gleichartigen Stammzellen entstehen die unterschiedlichsten, spezialisierten Zelltypen durch die sog. Differenzierungsprogramme. Obgleich wir wissen, dass diese Differenzierung der Zellen in den Genen angelegt sind, bleibt eine zentrale Frage noch offen: Wie ist dieser Prozess gesteuert? Was stellt sicher, dass die lebensnotwendigen Proportionen der verschiedenen Zelltypen innerhalb der Population vorhanden sind?

„Die aktuellen Theorien zur Zelldifferenzierung gehen davon aus, dass das Zellschicksal auf der Ebene einzelner Zellen bestimmt wird, Wir sehen aber Hinweise auf ein wesentlich komplexeres System“, sagt Dr. Aneta Koseska, Lise-Meitner-Forschungsgruppenleiterin am Forschungszentrum caesar. In ihrer neuesten Forschungsarbeit, die im Journal „Development“ als „Research Highlight“ erscheinen wird, entwirft sie eine neue Theorie. Zellen bestimmen ihre Identität nicht individuell, sondern die gesamte Zellpopulation als Kollektiv bestimmt zusammen welche Spezialisierungen einzelne Zellen bilden sollen und in welchen Anteilen. „Die Zellen eines Säugetierembryos sind nicht voneinander isoliert. Sie kommunizieren miteinander über verschiedene Moleküle und bilden ein verzweigtes System. Wenn die Population wächst und sich die Zellen teilen, bestimmt das System auch, zu welchem Zeitpunkt die Differenzierung auf selbstorganisierte Weise erfolgen muss“, so Dr. Koseska.

Mittels einer Simulation der Theorie, welche die Arbeitsgruppe von Dr. Aneta Koseska zusammen mit Dr. Christian Schroeter (Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie, Dortmund) entwarf, zeigten sie, dass die Spezialisierung einer Zelle von den übrigen Zellen der Population abhängt. Störte man das Gleichgewicht der Zelltypen in der Simulation – in dem man beispielsweise einen Zelltyp komplett herausnahm, so sorgt das Kollektiv der Zellen für eine Wiederherstellung der ursprünglichen Proportionen. Die Wissenschaftler schlagen daher vor, dass die Entscheidung des Zellschicksals und die aktive Aufrechterhaltung der günstigsten Populationszusammensetzung auf einem Kommunikationsmechanismus der Zellen untereinander beruht, und weniger auf den Individualentscheidungen der einzelnen Zellen.

Diese neue Theorie öffnet die Tür für weiterführende Studien. Dr. Koseska ist zuversichtlich: „Unsere Theorie liefert direkte Vorhersagen des zugrunde liegenden Mechanismus, die nun weiter untersucht und experimentell validiert werden können und müssen.“

Originalpublikation:
Stanoev, A., Schröter, C., Koseska, A. (2021). Robustness and timing of cellular differentiation through population-based symmetry breaking. Development 148, dev197608.

Research highlight

Über das Forschungszentrum caesar:
caesar ist ein in Bonn ansässiges Forschungsinstitut für Neuroethologie. Wir untersuchen, wie aus der kollektiven Aktivität der Vielzahl miteinander vernetzter Neuronen im Gehirn tierisches Verhalten in seiner ganzen Bandbreite entsteht. Unsere Forschung findet auf verschiedensten Größenebenen statt und reicht von der Darstellung neuronaler Schaltkreise auf einer Nanoskala über deren großräumige, funktionelle Abbildung im Verhaltensprozess bis hin zur Quantifizierung natürlichen tierischen Verhaltens.