Schmerzkongress 2021: Cannabis weiterhin auf Rezept?

Deutscher Schmerzkongress 2021
Jahrestagung der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V. und der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) e.V., 19. + 20. Oktober 2021 digital, 21.-23. Oktober 2021 hybrid in Mannheim

Cannabis weiterhin auf Rezept? – Fehlende wissenschaftliche Belege versus positive Effekte bei chronischen Schmerzen
Schmerzgesellschaft fordert konstruktiven Dialog der beteiligten Interessensgruppen

Seit mehr als vier Jahren ist in Deutschland die Verordnung von medizinischem Cannabis, Cannabisblüten und -extrakten sowie von cannabisbasierten Arzneimitteln auf Rezept möglich – trotz einer fehlenden Zulassung. Im Jahr 2022 steht die finale Auswertung der gesetzlich geforderten Begleiterhebung an, zu der alle Ärztinnen und Ärzte verpflichtet sind, die medizinisches Cannabis verschreiben. Etwa zwei Drittel der 10.000 dort dokumentierten Patientinnen und Patienten berichten über positive Effekte nach einem Jahr Behandlung – vor allem bei chronischen Schmerzen. In hochwertigen Studien gibt es allerdings nach wie vor keinen sicheren Wirkungsnachweis, und auch die Risiken einer längerfristigen Behandlung sind kaum untersucht. Was das bedeutet und wie es mit Cannabis auf Rezept im Jahr 2022 weitergeht, war Thema auf der heutigen Online-Pressekonferenz zum Deutschen Schmerzkongress. Die Tagung findet noch bis zum 23. Oktober digital und in hybrider Form in Mannheim statt.

******************************************************************

„Die Behandlung chronischer Schmerzen mit medizinischem Cannabis steht in einem wachsenden Spannungsfeld von finanziellen Interessen, Hoffnungen der Betroffenen und einer nicht nachgewiesenen Effektivität“, sagt Professor Dr. med. Frank Petzke, Leiter Schmerzmedizin an der Klinik für Anästhesiologie der Universitätsmedizin Göttingen und Sprecher der Ad-hoc-Kommission „Cannabis in der Medizin“ der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V.. Im ersten Halbjahr 2021 sei medizinisches Cannabis in Höhe von fast 90 Millionen Euro verschrieben worden. „Diese hohe Summe legt nahe, dass ein wirtschaftlich interessanter Markt mit erheblichen Kosten für die Solidargemeinschaft entstanden ist“, so Petzke weiter. Die Deutsche Schmerzgesellschaft fordert deshalb einen konstruktiven Dialog der beteiligten Interessensgruppen im Jahr 2022, an dem sie sich auch aktiv beteiligen wird.

Derzeit zählen manche Formen der Epilepsie, schmerzhafte Spastizität bei Multipler Sklerose und Übelkeit und Erbrechen nach Chemotherapie bei Versagen anderer Optionen zu den Indikationen mit speziell zugelassenen cannabisbasierten Arzneimitteln, die ärztlich direkt verordnet werden können. Alle anderen möglichen Indikationen für eine Therapie mit medizinischem Cannabis – einschließlich der Behandlung von Schmerzen – benötigen ein besonderes Antragsverfahren, da keine arzneimittelrechtliche Zulassung mit entsprechendem wissenschaftlichen Wirknachweis vorliegt.

Die gesetzlichen Hürden für die Verschreibung von Cannabis-Präparaten wurden vor diesem Hintergrund festgelegt: Nur wenn eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt, für die die Standardtherapien bereits ausgeschöpft sind oder nicht zur Anwendung kommen können, kann die Kostenübernahme bei der Krankenkasse beantragt werden. Der Behandler muss zudem bescheinigen, dass eine – so das Gesetz – „nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht“. Werden die Bedingungen erfüllt, steht mittlerweile ein breites Spektrum an cannabinoidhaltigen Fertigarzneimitteln und Zubereitungen in Form von diversen Blütenprodukten oder standardisierten Extrakten zur Verfügung. Zahlreiche Anbieter haben den Cannabis-Markt für sich entdeckt. Dies schaffe einerseits verbesserte therapeutische Optionen, sagt Petzke, mache es den Behandlern und Patienten aber auch schwer, das richtige Präparat auszuwählen.

„Patienten mit schweren Erkrankungen und Schmerzen sowie deren Ärztinnen und Ärzte haben ein gut nachvollziehbares Interesse an einer Behandlungsoption mit Cannabis“, sagt Petzke abschließend. Die geringe Evidenz und die fehlende Zulassung für viele potenzielle Indikationen erfordere aber auch eine kritische und rationale Auseinandersetzung mit Genehmigungsverfahren, sinnvollen Indikationen, tatsächlichem Nutzen, langfristigen Risiken und auch den Kosten der Behandlung.

******************************************************************

Zur Deutschen Schmerzgesellschaft e.V.:
Die Deutsche Schmerzgesellschaft e. V. ist mit rund 3.500 persönlichen Mitgliedern die größte wissenschaftlich-medizinische Fachgesellschaft im Bereich Schmerz in Europa. Die Deutsche Schmerzgesellschaft e. V. ist Mitglied der IASP (International Association for the Study of Pain) sowie der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften). Sie ist zudem die interdisziplinäre Schmerzdachgesellschaft von derzeit 19 mitgliederstarken weiteren medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften im Bereich Schmerz. Diese Perspektive wird zudem erweitert durch die institutionellen korrespondierenden Mitgliedschaften folgender Vereinigungen: SchmerzLOS e. V. Vereinigung aktiver Schmerzpatienten, MigräneLiga e. V. Deutschland, Milton H. Erickson Gesellschaft für klinische Hypnose (M.E.G.), Arbeitsgemeinschaft nicht operativer orthopädischer manual medizinischer Akutkliniken e. V. (ANOA), Interdisziplinäre Gesellschaft für Psychosomatische Schmerztherapie e. V. (IGPS), CRPS Netzwerk – Gemeinsam stark CRPS Bundesverband Deutschland e. V., RLS e. V. Deutsche Restless Legs Vereinigung, ICA Deutschland e. V. Förderverein Interstitielle Cystitis in der Deutschen Schmerzgesellschaft e. V.
Die Mitgliedschaft der Deutschen Schmerzgesellschaft e. V. ist interdisziplinär und interprofessionell und besteht aus Schmerzexperten aus Praxis, Klinik, Medizin, Psychologie, Pflege, Physiotherapie u. a. sowie wissenschaftlich ausgewiesenen Schmerzforschern aus Forschung, Hochschule und Lehre.

Zur Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft e.V. (DMKG):
Die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft e.V. (DMKG) ist eine interdisziplinäre wissenschaftliche Fachgesellschaft, die das Wissen über die Genese von Kopf- und Gesichtsschmerzen, deren Prävention und Therapie in Fachkreisen bei Ärzten, Psychologen, Physiotherapeuten, Pharmakologen und Apothekern, aber gerade auch bei Patienten und anderen Interessierten mehren und verbreiten möchte.