Gegen Antibiotikaresistenzen bei Mensch und Tier

Die in der Schweizer Kälbermast in grossen Mengen eingesetzten Antibiotika führen zu Resistenzen bei Tier und Mensch. Dagegen geht das Projekt Freiluftkalb an, das Jens Becker von der Vetsuisse-Fakultät mitentwickelt hat. Ein neuer Film stellt das Projekt vor, und aktuelle Studien bringen weitere Wirksamkeitsnachweise.

Interview: Nathalie Matter

Was ist das Projekt Freiluftkalb?Jens Becker: Es ist ein Konzept zur Haltung von Mastkälbern, das darauf abzielt, das Management rund um die Kälber zu verbessern. Beispielsweise werden sie neu dauerhaft im Aussenbereich gehalten – daher der Name Freiluftkalb – aber auch andere Faktoren werden optimiert. Dadurch liess sich im Vergleich zum etablierten Standard des Labels IP-SUISSE der Antibiotikaeinsatz auf Freiluftkalb-Versuchsbetrieben um 80 Prozent reduzieren, das Tierwohl dabei verbessern, und die Wirtschaftlichkeit auf vergleichbarem Niveau halten. Zwei kürzlich publizierte Studien zeigen zudem, dass dank dem Projekt bei solchen Mastkälbern weniger antibiotikaresistente Bakterien auftreten.

Ein Kurzfilm der Vetsuisse-Fakultät stellt das Konzept «Freiluftkalb» vor. Er wurde, wie auch Teile der Studie, vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanziert. © Universität Bern

 

Wie kamen Sie auf die Idee zum Freiluftkalb-Projekt?

In der Schweizer Kälbermast wird derzeit durch den massenhaften Einsatz von Antibiotika ein Resistenzproblem verursacht. Dies betrifft aber nicht nur die Kälber: Resistente Bakterien können sich verbreiten und auch auf den Menschen überspringen – etwa auf diejenigen, die mit den Kälbern arbeiten, das Personal am Schlachthof oder Konsumentinnen und Konsumenten, die mit kontaminiertem Fleisch in Kontakt kommen. Wenn solche resistenten Bakterien nun Krankheiten auslösen, können diese unter Umständen nur schwierig oder gar nicht mehr behandelt werden, vor allem bei multiresistenten Keimen. Mitunter muss dann auf besonders wichtige, noch wirksame Mittel, sogenannte Reserveantibiotika, zurückgegriffen werden. Leider werden solche auch schon in grosser Menge in der Schweizer Kälbermast eingesetzt!

Wo führt diese Entwicklung hin?Die Zahlen von Menschen, die wegen nicht behandelbarer Infektionen sterben, steigen. In den Niederlanden beispielsweise werden Mitarbeitende in der Kälbermast in einigen Spitälern vorerst in Quarantänebereiche aufgenommen und auf hochgefährliche Erreger überprüft, da man fürchtet, dass diese sich sonst im Spital verbreiten. Wir sehen in der Schweiz bei Kälbern sehr hohe Zahlen von Keimen, die gegen gewöhnliche, häufig eingesetzte Antibiotika resistent sind – teilweise über 70 Prozent! Nun können auch wir Trägerinnen und Träger solcher multiresistenten Keime sein, aber erkranken nicht zwangsläufig. Wir können sie aber weitergeben, was insbesondere bei Personen mit einem geschwächten Immunsystem zu schwerer, kaum mehr behandelbarer Krankheit führen kann. Wenn wir also mit einem Projekt wie dem unsrigen dazu beitragen können, die Antibiotikaresistenzen in der Schweiz zu senken, wäre dies ein grosser Schritt.

Wo setzt das Freiluftkalb-Projekt an?

Bei der genau gleichen Kausalkette des Problems, ganz am Anfang: Wenn es uns gelingt, die Kälber so zu managen, dass sie nicht krank werden, müssen wir auch nicht antibiotisch behandeln. So kommt es auch zu keinem Selektionsdruck auf Bakterien. Wir haben Massnahmen ergriffen, welche die Tiergesundheit messbar verbessern. Gemäss dem neuen Schweizer Informationssystem für den Antibiotikaverbrauch in der Veterinärmedizin, das die Verschreibungen der behandelnden Tierärztinnen und Tierärzte erfasst, ist klar: In der Schweizer Nutztierhaltung werden bei Mastkälbern und Rindern am meisten Reserveantibiotika verschrieben. Wir setzen also dort an, wo das Problem besonders gross ist.

Was ist bisher der grösste Erfolg des Projekts?Das sind drei Punkte: Eine deutliche Verbesserung der Tiergesundheit, ein über fünffach tieferer Einsatz von Antibiotika, und dass bei den Freiluftkälbern weniger resistente und mutiresistente Erreger auftreten.

Nun besteht das Konzept eben nicht nur aus der Haltung im Aussenbereich, sondern auch andere Anpassungen haben zum Erfolg beigetragen, etwa beim Zukauf und Transport der Kälber. Dennoch stellt das Konzept nicht für alle Betriebe schweizweit eine Lösung dar: ob es umgesetzt werden kann, hängt unter anderem von der Grösse des Betriebs und von der Aussenfläche ab, die zur Verfügung steht. Anhand unserer Daten können wir aber belegen, dass es sehr sinnvoll wäre, dieses Konzept bei denjenigen Betrieben, die mitmachen können, zu verbreiten, um den Antibiotikaeinsatz in der Kälbermast in der Schweiz zu reduzieren.

Was waren dabei die grössten Herausforderungen?Ein Konzept zu entwickeln, das für die Landwirtinnen und Landwirte so einfach ist, dass sie es auch umsetzen. Und das auch unter wechselnden Bedingungen Sinn macht – etwa wenn man Sommer wie Winter draussen arbeitet. Nur so wird es akzeptiert und grossflächig übernommen. Wir haben dafür mit einer grossen Anzahl Tiere gearbeitet, um möglichst repräsentative Ergebnisse zu erzielen, in sieben verschiedenen Kantonen sowohl in der Deutsch- als auch in der Westschweiz. Es gab keine nachgebaute Forschungsstation, wir waren mitten im echten Leben, das macht das Projekt auch so aussagekräftig.

Wie geht es nun mit dem Projekt weiter?Noch ist es nicht über die Testbetriebe hinaus umgesetzt. Die aktuellen politischen Vorgaben sind leider nicht sehr förderlich. Diejenigen Betriebe, die nach dem neuen Konzept arbeiten und nachweislich eine bessere Tiergesundheit aufweisen, profitieren weniger von Direktzahlungen. Es fehlt also ein Anreiz. Die Schwierigkeit ist, dass das Projekt Freiluftkalb vom Fördergefäss des Bundes RAUS – das steht für regelmässiger Auslauf – nicht akkreditiert ist, weil es sich um einen gedeckten Auslauf handelt. Auf einer Höhe von drei Metern ist es für uns aber klar ein Aussenbereich. Es gibt aber Argumente gegen das Freiluftkalb-System, wie etwa den Schutz des Landschaftsbildes. Es hapert also nicht am Wissenschaftlichen, sondern an politischen Prozessen, an Interessenskonflikten. Wir nehmen das so zur Kenntnis – wir sind Forschende, wir beobachten, messen und stellen Daten zur Verfügung. Es ist nicht unsere Aufgabe, zu politisieren.

Grundsätzlich müsste das Konzept auf den Betrieben auch gar nicht exakt wie in der Studie – etwa mit Standard-Gruppeniglus – umgesetzt werden. Man sollte auch mit weniger Investitionskosten ein ähnliches Ergebnis erreichen können, denn viele Betriebe haben schon das IP-SUISSE Label: sie haben bereits Auslaufmöglichkeiten für ihre Kälber. Diese müssten nur noch überdeckt werden.

Wozu braucht es die Abdeckung?Das Dach ist ein Schutz vor Regen und Schnee, bietet aber auch Schatten. Hitzestress ist ein Problem für Wiederkäuer. Wir wollen für die Kälber, die vor allem an Lungenentzündungen wegen der schlechten Luftqualität in oft engen und dunklen Ställen leiden, einen Anreiz schaffen, sich draussen aufzuhalten. Das tun sie nur, wenn es auch gemütlich ist – wo sie Stroh haben und auch liegen und «nesten» können. Kälber liegen gerne, wie alle Jungtiere – allerdings nur, wenn das Stroh trocken ist. Wenn es aber nur einmal regnet, ist das Stroh nass. Kurz: Ohne Dach macht unser Projekt keinen Sinn.

Wo sehen Sie noch konkreten Handlungsbedarf?Es geht nicht nur um den Auslauf und etwas Stroh, sondern man müsste das ganze Management ändern, vor allem den Handel mit Kälbern: der Zukauf und Transport von vielen verschiedenen Orten her ist einer der Hauptgründe für die hohe Sterblichkeit und die häufigen Erkrankungen bei Mastkälbern. Ein krankes Kalb kann alle anderen in einer Gruppe anstecken. Wir würden es also sehr begrüssen, wenn man gemeinsam den Handel und Transport anders organisieren könnte – aber dazu müssen die Händler noch überzeugt werden.

Was ist Ihr Wunsch für die Zukunft?

Dass sich das Konzept in der jetzigen oder leicht angepassten Form verbreitet, auf so vielen Betrieben wie möglich, und wir das wissenschaftlich begleiten können. So hoffen wir, einen konkreten und direkt messbaren Beitrag leisten zu können, um das Problem des hohen Antibiotikaeinsatzes in dieser Branche der Nutztierhaltung zu lösen.

ÜBER JENS BECKER

Dr. med. vet. Jens Becker ist Tierarzt und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Wiederkäuerklinik der Vetsuisse-Fakultät Bern.

ÜBER DAS PROJEKT FREILUFTKALB

Mit dem Projekt Freiluftkalb wurde ein neues Haltungssystem für Mastkälber im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Antimikrobielle Resistenz» (NFP 72) entwickelt und geprüft. Das Haltungssystem wurde auf 19 Kälbermastbetrieben in den Kantonen Bern, Freiburg, Luzern, Aargau und Solothurn während je 12 Monaten getestet. Dabei besuchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Bern jeden Betrieb mindestens einmal pro Monat. Sie erhoben jeweils den Gesundheitszustand und das Wohlergehen der Kälber. Dasselbe taten sie auch auf 19 Vergleichsbetrieben in derselben Region, die nach den Vorgaben von IP-SUISSE produzierten, einem Label mit ebenfalls hohen Anforderungen an das Tierwohl. Aus mehreren Publikationen geht hervor, dass das neue Haltungskonzept die Tiergesundheit deutlich verbessert, Antibiotikaresistenzen minimiert und für die Betriebe wirtschaftlich ist.

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AKTUELLSTE STUDIEN ZUM PROJEKT FREILUFTKALB

J. Becker et al.: Antimicrobial susceptibility in E. coli and Pasteurellaceae at the beginning and at the end of the fattening process in veal calves: Comparing ‚outdoor veal calf‘ and conventional operations, Veterinary Microbiology, Volume 269, June 2022, https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S037811352200089X

J. Becker et al.: Associations of antimicrobial use with antimicrobial susceptibility at the calf level in bacteria isolated from the respiratory and digestive tracts of veal calves before slaughter, Journal of Antimicrobial Chemotherapy, August 2022, https://academic.oup.com/jac/article/77/10/2859/6664151

ÜBER DEN NFP72 «ANTIMIKROBIELLE RESISTENZ»

Weltweit werden immer mehr Erreger resistent gegen die heute bekannten Antibiotika. Weil diese ihre Wirksamkeit verlieren, wandeln sich einst leicht behandelbare Infektionen zu tödlichen Krankheiten. Das Nationale Forschungsprogramm «Antimikrobielle Resistenz» (NFP 72) sucht nach Lösungen, um dieser Entwicklung entgegenzutreten. In Anbetracht der Mobilität von resistenten Bakterien zwischen Mensch, Tier und Umwelt verfolgt das NFP dabei einen ganzheitlichen, disziplinenübergreifenden One-Health-Ansatz. Das NFP72 wird nun nach einer fünfjährigen Laufzeit abgeschlossen.

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