Seltene Erkrankung: Das Übel an der Wurzel packen

Tübinger Forscher entwickeln ersten Therapieansatz zur ursächlichen Behandlung einer Form der hereditären spastischen Spinalparalyse

Am 28. Februar 2018 findet der Tag der Seltenen Erkrankungen statt. Bei der hereditären spastischen Spinalparalyse (HSP) handelt es sich um eine seltende Erbkrankheit, die zum zunehmenden Verlust von motorischen Nervenzellen führt. Langfristig nimmt sie betroffen Patienten die Fähigkeit zu laufen. Eine Möglichkeit zur Behandlung einer bestimmten Unterform der Erkrankung, der SPG5 (vom englischen Begriff spastic paraplegia gene type 5), entwickelten vor kurzem Wissenschaftler am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung, der Universität und dem Universitätsklinikum Tübingen sowie dem Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen. In der bislang größten Patientenstudie weltweit beobachteten sie, dass der Cholesterinsenker Atorvastatin die Konzentration des Stoffwechselprodukts 27-Hydroxycholesterol im Blut um rund 30 Prozent senkt. Das Abbauprodukt ist bei Patienten erhöht und spielt eine wichtige Rolle in der Krankheitsentstehung. „Damit legen wir einen ersten Ansatz zur Ursachenbehandlung vor“, berichtet Neurologe und Erstautor Professor Dr. Ludger Schöls. „Bisherige Therapien zielten lediglich auf eine Linderung der Symptome ab und können den Krankheitsmechanismus der SPG5 nicht beeinflussen.“ Die Studie ist in der renommierten Zeitschrift Brain erschienen.

„Die Erkrankung fängt meist schleichend an. Erst hebt man beim Gehen die Füße nicht mehr richtig hoch und fängt an, über den Boden zu schleifen. Später geht man extrem langsam und stolpert häufig. Ich selbst konnte mit 35 Jahren nicht mehr mit 80-Jährigen mithalten“, erzählt Rudolf Kleinsorge. Er leitet den Förderverein für HSP-Forschung e.V. und leidet selbst an einer anderen Unterform der Krankheit. Zwar verläuft jeder Fall sehr individuell, im Durchschnitt verlieren Patienten jedoch 20 Jahre nach Krankheitsausbruch die Fähigkeit selbstständig zu gehen und sind auf Krücken und Rollstuhl angewiesen. Von der spastischen Spinalparalyse Typ SPG5 ist etwa einer von einer Million Menschen betroffen. Die geringe Patientenanzahl macht es schwer, neue Therapieideen auf ihre Wirksamkeit zu untersuchen. Weltweit ist Tübingen einer von zwei Orten, an dem zu dieser Unterform geforscht wird.

„Bei Patienten mit SPG5 sammelt sich durch einen Genfehler das Fett 27-Hydroxycholesterol im Blut und Hirngewebe an“, erklärt Schöls. Das Cholesterinstoffwechselprodukt baut sich in Zellmembranen ein und verändert dabei ihre Struktur. „Wir gehen davon aus, dass es auf diese Weise bevorzugt Nervenzellen mit langen Fortsätzen schädigt, wie sie in den motorischen Bahnen im Rückenmark zu finden sind. Als Folge können die Zellen langfristig keine Bewegungssignale mehr aus dem Gehirn an die Muskeln weiterleiten.“

In der neuen Studie untersuchten die Forscher Laborwerte und klinische Symptome von 34 Patienten aus neun verschiedenen Kliniken in Europa und Brasilien. Sie beobachteten, dass die Konzentration des 27-Hydroxycholesterols im Blut und Hirnwasser von SPG5-Patienten deutlich erhöht ist und mit dem Schweregrad der Erkrankung korreliert. Je höher der Spiegel, desto ausgeprägter die Symptome. „Damit haben wir ein biochemisches Maß, an dem wir den Effekt einer Behandlung der SPG5 messen können“, berichtet Schöls.

Im nächsten Schritt untersuchten Schöls und seine Kollegen den Einsatz des Cholesterinsenkers Atorvastatin bei 14 Patienten in Tübingen. Das Ergebnis: Die Konzentration des 27-Hydroxycholesterols sank um 30 Prozent im Blut. Ein vielversprechendes Ergebnis: „Da dieses Fett das Wachstum von Nervenzellfortsätzen hemmt und die Blutkonzentration mit der Schwere der Erkrankung zusammenhängt, gehen wir davon aus, dass sich langfristig auch der Krankheitsverlauf verlangsamt.“ Um dies zu beobachten, planen die Tübinger Mediziner künftig eine Langzeitstudie durchzuführen. Ebenso möchten sie andere und möglicherweise effektivere Cholesterinsenker ausprobieren. „Wir haben nun endlich einen Biomarker, der uns Hinweise gibt, ob ein Medikament die Krankheit grundlegend beeinflussen kann“, freut sich Schöls. „Das hilft uns, systematisch nach Lösungen zu suchen, die das Übel der Krankheit an der Wurzel packen.“

Originalpublikation
Schöls et al. (2017): Hereditary spastic paraplegia type 5: natural history, biomarkers and a randomized controlled trial. Brain, 140, 3112–3127.
doi: 10.1093/brain/awx273

Lesen Sie mehr über Prof. Schöls Arbeit in einem Interview mit der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung.