KI-gestützte Krebsdiagnose für Kinder und Jugendliche

Seit dem Onlinegang im Jahr 2016 hat die KI „Heidelberg Brain Tumor Classifier“ molekulare Daten von mehr als 100.000 Hirntumoren analysiert. Eine aktuelle Studie belegt jetzt den Nutzen des am Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg, am Deutschen Krebsforschungszentrum und am Universitätsklinikum Heidelberg entwickelten Verfahrens für die Krebsdiagnose. Durch die KI-gestützte Analyse sogenannter Methylierungsmuster können Hirntumoren bei Kindern und Jugendlichen nicht nur präziser, sondern bei bestimmten Tumorgruppen auch zuverlässiger klassifiziert werden als mit dem Mikroskop. Davon können besonders Patienten mit seltenen Tumorarten und besonders aggressiven Hirntumoren davon profitieren.

Das „Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg“ (KiTZ) ist eine gemeinsame Einrichtung des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), des Universitätsklinikums Heidelberg (UKHD) und der Universität Heidelberg (Uni HD).

Krebs bei Kindern und Jugendlichen ist anders als Krebs bei Erwachsenen, das zeigt sich auch in seiner Vielgestaltigkeit. Über 150 Unterarten gibt es bei Tumoren des Zentralen Nervensystems im Kindesalter – ein Vielfaches mehr als bei Erwachsenen. „Je nach Tumorklasse schlagen Strahlen- und Chemotherapie auch ganz unterschiedlich an. Die Tumoren so präzise wie möglich zu klassifizieren, ist für eine wirksame Behandlung daher ganz entscheidend“, betont der Leiter der Studie, David Jones, Abteilungsleiter am Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg (KiTZ) und am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ).

Lange war der Blick durch das Mikroskop ausschlaggebend für die Krebsdiagnose. Gemäß der Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation WHO wurden die meisten Hirntumoren bis vor Kurzem hauptsächlich anhand ihrer Gewebeeigenschaften in Tumorgruppen eingeordnet. „Dieses Expertenwissen ist auch nach wie vor unverzichtbar für die Diagnosestellung. Es ist jedoch nicht möglich, alle Tumorarten allein anhand ihrer Gewebestruktur genauer zu klassifizieren. Zudem sind einige Tumorarten so selten, dass selbst erfahrene Pathologinnen und Pathologen sie so gut wie nie zu sehen bekommen“, sagt Jones.

Im Jahre 2018 hatte ein Forscherteam um Stefan Pfister, Direktor am KiTZ, Abteilungsleiter am DKFZ und Kinderonkologe am Universitätsklinikum Heidelberg (UKHD), in enger Kooperation mit der Abteilung Neuropathologie am UKHD mit Andreas von Deimling und Felix Sahm erstmals eine neue KI-gestützte Methode im Fachmagazin Nature veröffentlicht und weltweit zugänglich gemacht. Der unter dem Namen „Heidelberg Brain Tumor Classifier“ bekannte Algorithmus wertet sogenannte DNA-Methylierungen im Erbgut des Tumors aus. Das komplexe Muster an Methylmarkierungen, mit denen unsere DNA versehen ist, bildet eine zweite Informationsebene – neben der Erbinformation, die in der Basenfolge der DNA festgelegt ist. Die Methylierungen markieren Gene und die Zelle kann dadurch deren Aktivität steuern. Eine Vielzahl an Studien hat bereits gezeigt, dass sich nicht nur Krebszellen und gesunde Zellen in ihrem Methylierungsmuster unterscheiden, sondern auch verschiedene Tumorarten.

Aufgabe der KI ist es, anhand der Methylierungsdaten für jede Tumorgruppe einen möglichst unverwechselbaren Fingerabdruck zu identifizieren, um damit die Diagnose zu verfeinern. Seit dem ersten Onlinegang hat der Brain Tumor Classifier mehr als 100.000 Tumorproben ausgewertet, die weltweit auf die Plattform www.molecularneuropathology.org zu Forschungszwecken hochgeladen wurden.

Die aktuell vorliegende Studie kommt jetzt zu dem Ergebnis, dass das Verfahren die Genauigkeit der bislang etablierten Diagnoseverfahren entscheidend verbessert und somit eine noch stärker personalisierte Behandlung ermöglicht.

Es ist die erste Studie, welche die Zuverlässigkeit von Methylierungsprofilen für die Krebsdiagnose bei Kindern auch durch längere Beobachtungen der Krankheitsverläufe überprüfen konnte. Bei 1.200 neu diagnostizierten Hirntumoren im Kindes- und Jugendalter verglich das Forscherteam die anhand bisheriger WHO-Kriterien gestellte Diagnose mit dem Ergebnis der KI. Bei der Hälfte der Patientinnen und Patienten stimmte die Diagnose grundsätzlich mit der ursprünglichen WHO-Klassifikation überein, die KI-Analyse ermöglichte aber eine genauere Klassifizierung des Tumors in bestimmte Untergruppen. „Einige der identifizierten Methylierungsmuster sind so spezifisch, dass die KI damit sogar Aussagen zum geschätzten Alter und Geschlecht des Kindes sowie der Lage des Tumors treffen kann“, erläutert Dominik Sturm, Hauptautor der Studie und Kinderarzt am KiTZ und UKHD.

Ergänzend zu den Methylierungsdaten analysierte das Forscherteam in enger Kooperation mit der Abteilung Humangenetik am UKHD auch die genetische Information bestimmter, mit Krebs assoziierter Gene zur Verfeinerung der Diagnose. Bei knapp 50 Prozent der Betroffenen stießen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf genetische Veränderungen, die für die Diagnosestellung entscheidend sind oder sich therapeutisch nutzen lassen. In 10 Prozent der Fälle entdeckte das Forscherteam auch ein erbliches Krebsrisiko. „Erblich bedingte Ursachen für Krebs bei der Diagnosestellung zu erkennen, kann helfen, die Krebsbehandlung die richtige Therapieentscheidung zu treffen“, erläutert Sturm. „Betroffene Familien können sich zu ihrem genetischen Krebsrisiko beraten lassen und beispielsweise bestimmte Vorsorgeuntersuchungen für Geschwister und andere betroffene Familienmitglieder wahrnehmen.“

Abweichungen zu der nach WHO-Kriterien gestellten Diagnose gab es insbesondere bei jungen Patientinnen und Patienten mit hochgradigen Gliomen – besonders aggressiv wachsenden Hirntumoren. Bei etwa 15 Prozent dieser Erkrankten befand die KI, dass es sich nicht um Hochrisikotumoren, sondern um niedriggradigere Gliome mit einer deutlich günstigeren Prognose handelte. Tatsächlich bestätigte die Nachverfolgung über mehrere Jahre, dass diese Patientinnen und Patienten einen deutlich günstigeren Krankheitsverlauf und bessere Überlebenschancen hatten, als es bei einem hochgradigen Gliom der Fall gewesen wäre. „Gerade diese Patientengruppe könnte daher von dem neuen Verfahren besonders profitieren“, sagt David Jones.

Erst kürzlich wurde eine neue Ausgabe der WHO-Klassifikation von Tumoren des zentralen Nervensystems veröffentlicht, die gemeinsam von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern am KiTZ, des UKHD und des DKFZ sowie zahlreichen weiteren internationalen Experten entwickelt wurde. Sie beruht erstmals auf einem modernen, vielschichtigen Ansatz, in dem jetzt auch Methylierungsmuster fest verankert sind. „Unsere Studie zeigt, dass die Kombination mit KI-gestützten Verfahren die Präzisionsdiagnostik für Kinder und Jugendliche mit Hirntumoren entscheidend verbessern kann“, sagt Stefan Pfister. „Auch in Ländern, in denen es oft zu wenige spezialisierte Pathologen zur Beurteilung von Tumorproben gibt, könnten diese Methoden helfen, präzisere Diagnoseansätze speziell für krebskranke Kinder standardmäßig einzusetzen. Wir beginnen gerade damit, dies mit Partnerinstitutionen in Afrika und Asien zu untersuchen.“

Originalpublikation:

Sturm, D. et al. Multiomic neuropathology improves diagnostic accuracy in pediatric neuro-oncology. In: Nature Medicine (Online Publikation XX 2023) DOI:

Weitere Informationen:

Plattform der KI-gestützten Methode zur Analyse von Methylierungsprofilen bei ZNS-Tumoren im Kinder- und Jugendalter MolecularNeuropathology.org: http://www.molecularneuropathology.org

Ein Bild zur Pressemitteilung steht zum Download zur Verfügung:
https://www.kitz-heidelberg.de/fileadmin/media/kitz/news/2023/Hirntumoren_Methyl…

Das Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg (KiTZ)

Das „Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg“ (KiTZ) ist eine kinderonkologische Einrichtung des Deutschen Krebsforschungszentrums, des Universitätsklinikums Heidelberg und der Universität Heidelberg. Wie das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg, das sich auf Erwachsenenonkologie konzentriert, orientiert sich das KiTZ in Art und Aufbau am US-amerikanischen Vorbild der so genannten „Comprehensive Cancer Centers“ (CCC). Das KiTZ ist gleichzeitig Therapie- und Forschungszentrum für onkologische und hämatologische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Es verfolgt das Ziel, die Biologie kindlicher Krebs- und schwerer Bluterkrankungen wissenschaftlich zu ergründen und vielversprechende Forschungsansätze eng mit der Patientenversorgung zu verknüpfen – von der Diagnose über die Behandlung bis hin zur Nachsorge. Krebskranke Kinder, gerade auch diejenigen, für die keine etablierten Behandlungsoptionen zur Verfügung stehen, bekommen im KiTZ einen individuellen Therapieplan, den Experten verschiedener Disziplinen in Tumorkonferenzen gemeinsam erstellen. Viele junge Patienten können an klinischen Studien teilnehmen und erhalten damit Zugang zu neuen Therapieoptionen. Beim Übertragen von Forschungserkenntnissen aus dem Labor in die Klinik übernimmt das KiTZ damit Vorbildfunktion.

Das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ)

Das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) ist mit mehr als 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die größte biomedizinische Forschungseinrichtung in Deutschland. Über 1.300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erforschen im DKFZ, wie Krebs entsteht, erfassen Krebsrisikofaktoren und suchen nach neuen Strategien, die verhindern, dass Menschen an Krebs erkranken. Sie entwickeln neue Methoden, mit denen Tumoren präziser diagnostiziert und Krebspatienten erfolgreicher behandelt werden können.
Beim Krebsinformationsdienst (KID) des DKFZ erhalten Betroffene, interessierte Bürger und Fachkreise individuelle Antworten auf alle Fragen zum Thema Krebs.
Gemeinsam mit Partnern aus den Universitätskliniken betreibt das DKFZ das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) an den Standorten Heidelberg und Dresden, in Heidelberg außerdem das Hopp-Kindertumorzentrum KiTZ. Im Deutschen Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK), einem der sechs Deutschen Zentren für Gesundheitsforschung, unterhält das DKFZ Translationszentren an sieben universitären Partnerstandorten. Die Verbindung von exzellenter Hochschulmedizin mit der hochkarätigen Forschung eines Helmholtz-Zentrums an den NCT- und den DKTK-Standorten ist ein wichtiger Beitrag, um vielversprechende Ansätze aus der Krebsforschung in die Klinik zu übertragen und so die Chancen von Krebspatienten zu verbessern.
Das DKFZ wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent vom Land Baden-Württemberg finanziert und ist Mitglied in der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren.

Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät Heidelberg: Krankenversorgung, Forschung und Lehre von internationalem Rang

Das Universitätsklinikum Heidelberg (UKHD) ist eines der bedeutendsten medizinischen Zentren in Deutschland; die Medizinische Fakultät Heidelberg der Universität Heidelberg zählt zu den international renommierten biomedizinischen Forschungseinrichtungen in Europa. Gemeinsames Ziel ist die Entwicklung innovativer Diagnostik und Therapien sowie ihre rasche Umsetzung für Patientinnen und Patienten. Klinikum und Fakultät beschäftigen rund 14.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und engagieren sich in Ausbildung und Qualifizierung. In mehr als 50 klinischen Fachabteilungen mit rund 2.500 Betten werden jährlich circa 86.000 Patientinnen und Patienten voll- und teilstationär und mehr als 1.100.000 Patientinnen und Patienten ambulant behandelt.
Gemeinsam mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und der Deutschen Krebshilfe (DKH) hat das UKHD das erste Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg etabliert. Ziel ist die Versorgung auf höchstem Niveau als onkologisches Spitzenzentrum und der schnelle Transfer vielversprechender Ansätze aus der Krebsforschung in die Klinik. Zudem betreibt das UKHD gemeinsam mit dem DKFZ und der Universität Heidelberg das Hopp Kindertumorzentrum Heidelberg (KiTZ), ein deutschlandweit einzigartiges Therapie- und Forschungszentrum für onkologische und hämatologische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter.
Das Heidelberger Curriculum Medicinale (HeiCuMed) steht an der Spitze der medizinischen Ausbildungsgänge in Deutschland. Derzeit befinden sich an der Medizinischen Fakultät Heidelberg (MFHD) rund 4.000 angehende Ärztinnen und Ärzte in Studium und Promotion. www.klinikum-heidelberg.de