Angehörigenberatung in NeuroIntensivstation und Frühreha – denn Krankheit trifft nicht nur die Patienten, sondern die ganze Familie!

Wenn ein Familienangehöriger wegen einer schweren Schädigung des Gehirns behandelt werden muss, ist das auch für die Angehörigen eine schwierige Situation, die meistens unvorbereitet eintritt. Für Angehörige von Patienten auf der Neurointensivstation und in der Frührehabilitation kann es sehr hilfreich sein, einen Angehörigenberater als Hauptansprechpartner an ihrer Seite zu haben. Dr. med. Volker Ziegler, Klinik für neurologische Frührehabilitation und neurologische Intensivmedizin RHÖN-KLINIKUM Campus Bad Neustadt, gibt mit seinem Team Einblicke in die Chancen für alle Beteiligten, wie Angehörige von der Aufnahme über den Aufenthalt in der Klinik bis hin zur Entlassung in Therapie und Betreuung einbezogen werden und über die besonderen Aufgaben der persönlichen Begleitung.

Welche Hilfe kann eine Angehörigenbetreuung bieten, wenn ein Familienmitglied auf einer NeuroIntensivstation liegt oder in einer Frührehabilitation behandelt werden muss?

Dr. Ziegler: Insbesondere für die Angehörigen ist es eine schwierige Situation, da die Patienten auf der Intensivstation häufig beatmet sind und zumindest am Anfang auch nicht mitbekommen, was mit ihnen passiert. Umso wichtiger ist es, die Angehörigen „abzuholen und mitzunehmen“.

Frau Seeliger: Zu Beginn muss man darauf verweisen, dass die wenigsten Angehörigen unserer Patienten aus der näheren Umgebung von Bad Neustadt/Saale kommen. Tägliche Besuche sind oft aufgrund der weiten Entfernungen nicht möglich. Wir nehmen aktiv Kontakt zu den Angehörigen auf und binden sie somit ab dem ersten Tag in die Behandlung mit ein. Bewusst tun wir dies erst nach der Aufnahme des Patienten, nachdem wir ihn selbst persönlich kennengelernt haben. Man könnte uns als Lotsen an der Seite der Angehörigen während des klinischen Aufenthalts bezeichnen.

Frau Anding: Die Angehörigenberaterin bietet wichtige Informationen über Erreichbarkeiten, erforderliche Kontaktdaten, Strukturen und Abläufe sowie Angebote des Hauses, wie z.B. die Seelsorge. Sie erläutert z.B. das Phasenmodell der neurologischen Rehabilitation, also Phase A + B Krankenhaus, Phase C + D Rehabilitation im eigentlichen Sinne. Wir geben das Gefühl, sich für den Patienten und seine Situation zu interessieren, nicht nur für einen Fall.

Angehörige in der Akutsituation der Patienten sind in einer Ausnahmesituation. Welche Unterstützung bieten Sie in der Angehörigenbegleitung?

Frau Seeliger: Als erstes wäre dabei zu nennen, dass wir eruieren, ob der Patient für die eingetretene Situation Vorsorge getroffen hat. Also: liegt eine Vorsorgevollmacht oder Patientenverfügung vor? Das gemeinsame Erstellen der ICF-bezogenen Sozialanamnese dient nicht nur dazu, Informationen über den Patienten vor der stationären Aufnahme zu erhalten, sondern auch den Unterstützungsbedarf der Angehörigen zu eruieren. Die Planung und Strukturierung z.B. von geplanten Arztgesprächen schafft Vertrauen und kein Angehöriger hat das Gefühl, auf der Suche nach Informationen durch die Klinik zu irren.

Frau Schlegel: Die Angehörigen erhalten Informationsmaterial zum Umgang mit unseren Patienten. Wir bieten ihnen pflegerische und therapeutische Anleitungen an, um kleine Teilsequenzen selbst übernehmen zu können. Dadurch stehen Angehörige nicht hilflos am Bett, sondern haben das Gefühl, selbst etwas tun zu können. Die Angehörigen haben die Möglichkeit, uns immer zu erreichen und Gespräche zu führen, was teilweise mehrfach täglich erfolgt, als Entlastungsgespräch.

Welche Vorteile hat die Angehörigenberatung als fester Bestandteil an Ihrer Klinik auch für die Abläufe und die Beteiligten in Medizin und Pflege?

Dr. Ziegler: Die Angehörigen haben einen festen Ansprechpartner, der als Anlaufstelle für alle Fragen und Probleme da ist. Viele Kleinigkeiten, die häufig von den Angehörigen in einem Arztgespräch geklärt werden möchten, können ohne Arzt geregelt werden. Arztgespräche werden mit ausreichender Zeit geplant und können sich auf die medizinischen Inhalte im Wesentlichen beschränken. Der Arzt kann sich auf die medizinischen Fragestellungen zentrieren, da die anderen Probleme meistens bereits besprochen und geregelt sind. Die Anrufe auf Station werden erheblich reduziert und damit die Pflege nicht in ihren Abläufen unterbrochen.

Frau Seeliger: Der interdisziplinäre Austausch ist ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit. Informationen über den Patienten sind für alle Mitarbeiter im Team – Pflege, Ärzte, Therapeuten, Sozialdienst – gleichermaßen ersichtlich und können in den Prozess einbezogen werden. Die Angehörigen der Patienten sind teilweise sehr verunsichert und haben viele Fragen oder Probleme. Durch den festen Ansprechpartner kann auch sehr deeskalierend gewirkt und Probleme können zeitnah bearbeitet werden. Ein gutes Beispiel dafür wäre die Organisation einer Angehörigenanleitung in der Frührehabilitation mit einem formulierten Ziel. Dies macht es dem Team leichter, sich auf die Bedürfnisse der Angehörigen einzustellen und entsprechend zu agieren. Andere Beispiele wären die Einbeziehung der Klinikseelsorge oder die Terminierung der Arztgespräche.

Frau Anding: Besuche können individuell geplant und unter Berücksichtigung der privaten Situation der Angehörigen werden, zum Beispiel Besuche mit minderjährigen Kindern. Therapien werden so geplant, dass bei angekündigtem Besuch die Trachealkanüle direkt vorher entblockt wird, so dass der Patient sich mit seinen Angehörigen austauschen kann.

Frau Schlegel: Alle beteiligten Berufsgruppen können durch die Sozialanamnese die private, familiäre und soziale Lebenssituation, die Reaktionen der Familie besser verstehen und darauf eingehen, wodurch unbeabsichtigte Konflikte vermieden werden.

Wie werden die Angebote der Angehörigenbetreuung angenommen?

Dr. Ziegler: In meinen Gesprächen mit den Angehörigen höre ich immer wieder, dass durch die Angehörigenberatung die Abläufe in der Klinik sehr strukturiert sind und die Angehörigen eine Ansprechpartnerin haben, die ihnen weiterhilft.

Frau Seeliger: Die Angebote der Angehörigenberatung werden gut angenommen, da es für die Angehörigen seit dem Tag der Aufnahme bei uns eine beständige Normalität darstellt. Die Angehörigen fühlen sich mit ihren Problemen und Ängsten wahrgenommen. Auch für das interdisziplinäre Team stellt die Angehörigenberatung eine Erleichterung dar. Probleme unsererseits können zeitnah und aktiv gelöst werden. Dadurch kommt es zu mehr gegenseitigem Verständnis. Dass die Angehörigen die Angehörigenbetreuung als sehr nützlich und sinnvoll bewerten, lässt sich gut an den positiven Rückmeldungen auch nach der Entlassung des Patienten erkennen.

Mit Blick auf emotionale Belastung, existenzielle Fragen, therapeutische Entscheidungen – was sind die größten Herausforderungen in der Betreuung von Angehörigen?

Dr. Ziegler: Ein wesentliches Problem stellt das Verstehen des Krankheitsbildes und die damit resultierende Behinderung dar. Hinzu kommt das Akzeptieren, dass nichts mehr ist, wie es bisher war. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Beizubringen, dass nun doch alles anders ist, ist eine immer wieder herausfordernde Aufgabe. Wird die Krankheit des Angehörigen zumindest verstanden, wenn auch nicht akzeptiert, so kann man weiterführende Dinge besprechen. Vielleicht gibt es eine Patientenverfügung und einen klar definierten Patientenwillen. Muss man über eine Therapiezieländerung sprechen. Wie geht es nach dem Krankenhausaufenthalt weiter? Ist eine Pflege zu Hause möglich oder muss ein Pflegeheim gesucht werden?

Frau Seeliger: Die emotionale Belastung können wir den Angehörigen nicht abnehmen. Wir können nur versuchen, sie ausreichend zu informieren und entsprechend ihrer Bedürfnisse zu unterstützen. Liegt z.B. eine Patientenverfügung vor, können sich die Angehörigen am formulierten Willen des Patienten sozusagen festhalten. Da seit der Aufnahme meist ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden konnte, sind die Angehörigen oft dazu in der Lage bei uns über ihre Ängste zu sprechen und ihren Emotionen auch freien Raum zu lassen. Zusammen mit dem Team wird dann für die Angehörigen auf Wunsch auch bei uns die Möglichkeit geschaffen, den Patienten würdevoll zu begleiten. Auf Zukunftsängste kann zeitnah eingegangen werden unter Einbeziehung z.B. des Sozialdienstes, um über die Möglichkeiten des poststationären Konzeptes zu informieren.

Frau Anding/Frau Schlegel: Unser Zeitmanagement einzuhalten, ist immer wieder eine Herausforderung. Manche Angehörige benötigen sehr viel Austausch, um überhaupt die Krankheit und die damit entstandenen Probleme wahr- und anzunehmen. Sehr zeitaufwändig sind junge Patienten mit jungen Familien, vor allem mit kleineren Kindern. Diese mit einzubeziehen ist sowohl emotional als auch in der kindgerechten Darstellung schwierig. Interkulturelle Konflikte erschweren häufig unsere Arbeit. Die Erwartungshaltung der Angehörigen gegenüber der Klinik wird immer höher, nicht nur medizinisch, sondern vor allem auch im nicht medizinischen, sozialen Bereich – Dolmetscher, Wäsche waschen, Pflege und Therapeuten in der Muttersprache werden erwartet, Pflege nur durch Frauen oder Männer, Berücksichtigung der eigenen Sterbekultur.

Ein weiteres Problem ist der Umgang mit Schuldgefühlen und Vorwürfen seitens der Angehörigen gegenüber der Klinik, aber auch gegen sich selbst. Diese dürfen wir nicht nur beschwichtigen, denn sie sind ja für die Angehörigen vorhanden. Bei Selbstvorwürfen die Problematik wahrzunehmen und versuchen, ggf. durch medizinische Argumente diese zu entkräften.

Welche Maßnahmen zur Angehörigenbegleitung von Patienten auf Intensivstationen und in der neurologischen Frührehabilitation haben sich nach Ihren Erfahrungen als besonders sinnvoll herausgestellt?

Dr. Ziegler: Allein der immer gleiche Ansprechpartner für die Angehörigen ist eine große Erleichterung. Allgemeine Fragen werden sofort beantwortet, die Angehörigen haben das Gefühl, man kümmert sich um den Patienten. Die Fragen und Probleme der Angehörigen werden kanalisiert weitergeleitet, sodass diese Fragen von den zuständigen Personen kompetent beantwortet werden. Allerdings macht jede weitere Krankenhausreform mit dem Ziel, Geld einzusparen, die Finanzierung der Angehörigenberatung schwieriger.

Frau Seeliger: Das Konzept der Angehörigenberatung haben wir anhand der Reflexion unserer Arbeit mit Angehörigen von Patienten auf der Intensivstation oder in der neurologischen Frührehabilitation entwickelt. Wobei es kein statisches Konzept ist, sondern flexibel weiterentwickelt wurde und wird. Die aktive Kontaktaufnahme hat sich auf jeden Fall als sehr sinnvoll herausgestellt. Den Angehörigen wird gleich mitgeteilt, wie der Ablauf strukturiert ist und welche persönlichen Sachen für den stationären Aufenthalt notwendig sind. Durch dieses Konzept lässt sich natürlich auch sehr zeitnah eruieren, wenn ein Patient keine Angehörigen hat oder es Angehörige gibt, die nicht in der Lage sind, sich um den Patienten zu kümmern. In diesem Fall muss für den Patienten ein ganz anderes Hilfskonstrukt erarbeitet werden.

Frau Anding/Frau Schlegel: Um den Angehörigen die Möglichkeit für telefonische Auskünfte zu bieten, gibt es ein Passwortsystem. Hier wird für jeden Patienten durch den bevollmächtigten Ansprechpartner ein individuelles Passwort vergeben. Somit erhalten die bevollmächtigten Angehörigen die Möglichkeit, den Kreis der Auskunftsberechtigten selbst zu steuern. Nur wer das Passwort kennt, erhält Informationen. Ein weiterer wichtiger Punkt in der Begleitung der Angehörigen ist die Angehörigenanleitung. Hier wird ein Tag Begleitung bei Pflege und Therapie vereinbart, damit die Angehörigen sehen und spüren, ob sie der realen Situation gewachsen sind.

Weshalb ist eine Angehörigenbegleitung für Patienten in allen Phasen wichtig – bei der Heilung, der Genesung, der Pflege, längerfristiger Rehabilitation?

Dr. Ziegler: Die Angehörigenberatung steuert und begleitet die Angehörigen durch den Krankheits- und Heilungsprozess. Fragen und Probleme werden aufgenommen, weitergetragen und nach Möglichkeit gelöst. Auch in Zeiten, in denen wir pflegerische und ärztliche Versorgung nur noch mit internationalen Arbeitskräften leisten können, haben die Angehörigen einen Ansprechpartner, der sie versteht und versucht, eine Lösung zu finden. Die Beschwerden von Angehörigen haben sich damit erheblich reduziert.

Frau Seeliger: Angehörigenberatung ist notwendig, wenn der Patient in einem andauernden Zustand bleibt, sich nicht selbst kümmern zu können. Als gutes Beispiel ist hier die Erarbeitung des poststationären Konzeptes zu nennen, welches ohne Angehörige oder Bevollmächtigte nicht möglich wäre.