Molekulare Mechanismen erklären, warum Menschen unterschiedlich auf Stress reagieren

ForscherInnen des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie (MPI) stellten sich die Frage, welche genetischen Varianten an der Reaktion auf Stress beteiligt sein könnten. Mithilfe einer neuen Methode konnten sie über 3600 spezifische Varianten parallel testen, um festzustellen, welche davon funktionell sind. Die bahnbrechende Studie auf molekularer Ebene zeigt, dass die genetischen Varianten, die die Empfindlichkeit gegenüber den Folgen von Stress modulieren, einen Einfluss auf das Risiko psychiatrischer Störungen haben.

Das Zusammenspiel von Genen und Umwelt ist entscheidend für das Risiko, psychiatrische Störungen zu entwickeln. Dies ist seit vielen Jahren bekannt. Stress ist einer der wichtigsten Umweltfaktoren. Aber warum können manche Menschen gut mit Stress und belastenden Lebensereignissen umgehen, während andere psychiatrische Störungen entwickeln? Diese Frage stellt sich jeder. WissenschaftlerInnen des MPI haben sich dieser Fragestellung auf molekularer Ebene genähert. Neue molekulargenetische und statistische Methoden boten ihnen die Chance, viele genetische Varianten gleichzeitig zu untersuchen. Dadurch wollten sie verstehen, wie die Varianten Zellen in ihrer Reaktion auf Stress beeinflussen.

Unter der Leitung der Postdoktorandin und Erstautorin der Studie, Signe Penner-Goeke, setzte das Team am MPI statistische Methoden ein, die Erkenntnisse lieferten, wie diese Varianten im Gehirn wirken und sogar kausale Wirkungen vorhersagbar machten. Die WissenschaftlerInnen modellierten Stress mit Dexamethason, einem synthetischen Molekül, das die Wirkung des Stresshormons Cortisol nachahmt. Anhand von Zellen, die bekanntermaßen stark auf Stress reagieren, identifizierten sie über 500 Regionen, die Reaktionen auf Stress zeigten, sowie 79 Varianten, die die Genexpression nur bei Behandlung mit Dexamethason beeinflussten. Das bedeutet, dass einige der Varianten einen Einfluss auf das Risiko der Entwicklung psychiatrischer Störungen haben: „Wir haben eine Reihe von Varianten gefunden, die mit psychiatrischen Störungen in Verbindung stehen“, so Penner-Goeke.

Stress-Tests

Die MPI-Forschenden untersuchten dann, wie die Kombination der Varianten das Risiko moduliert. In einem Experiment, bei dem sie ProbandInnen einer Stressaufgabe unterzogen, zeigte sich, dass eine höhere Anzahl von Varianten mit einem Anstieg des Cortisolspiegels verbunden war. Dieser Unterschied wurde vor der Stressaufgabe nicht beobachtet, was bedeutet, dass diese Varianten nur in Stresssituationen relevant waren. Ein weiterer Test zeigte, dass Personen mit mehr Risikovarianten bei Erschrecken intensiver reagierten. Die Teilnehmenden zeigten auch eine erhöhte Amplitude des Erschreckens bei wiederholter Exposition.

Dies ist die erste Studie, die die molekulare Ebene von Stress erklärt: Die genetischen Varianten, die die physiologische Reaktion auf Stress modulieren, sind am Risiko für psychiatrische Störungen beteiligt. „Die Genetik hat einen Einfluss auf die Empfindlichkeit gegenüber den Folgen von Stress. Dieser molekulare Mechanismus könnte erklären, warum belastende Lebensereignisse mehr oder weniger mit psychiatrischen Störungen korrelieren“, fasst MPI-Direktorin Elisabeth Binder zusammen. Diese Erkenntnisse sind wichtig für die Vorhersage, welche Menschen ein höheres Risiko haben, als Reaktion auf Stress psychiatrische Störungen zu entwickeln. Dieses Wissen könnte für eine bessere Prävention und Behandlung psychiatrischer Störungen genutzt werden.

Originalpublikation:

Signe Penner-Goeke et al.: High-throughput screening of glucocorticoid-induced enhancer activity reveals mechanisms of stress-related psychiatric disorders
PNAS
https://doi.org/10.1073/pnas.2305773120